Vierzig Jahre nachdem sich ein Priester an einem Ministranten verging, hat die katholische Kirche Deutschlands nun erstmals das Opfer eines sexuellen Missbrauchs entschädigt.

von Peter Wensierski (Artikel als PDF herunterladen)

Als sich die Gottesdiener nach Jahren des Zauderns endlich auf den rechten Weg begaben, konnte es ihnen auf einmal nicht schnell genug gehen. „Je eher Sie mir die Vereinbarung zurücksenden“, drängte der Anwalt des Bistums Magdeburg, desto eher „werde ich veranlassen, dass Ihnen der Betrag von 25 000 Euro angewiesen wird“. Damit sei der „Konfliktfall auf gütlichem Wege“ geregelt.

Der Konfliktfall. Eine harmlose Beschreibung für das, was der ehemalige Ministrant Norbert Denef jahrelang erdulden und jahrzehntelang mit sich herumtragen musste. Er war, das räumten die Magdeburger Kirchenmänner nun ganz offiziell ein, „in den Jahren 1958 bis 1964 sexuell missbraucht worden“, von einem Priester. Dafür wird er jetzt entschädigt, schon aus „christlicher Mitverantwortung“ und um die noch „fortdauernde Traumatisierung“ zu lindern, allerdings ganz „ohne Anerkennung der Rechtspflicht“. Juristisch nämlich ist die unschöne Sache längst verjährt. Mit der Einmalzahlung sei das Opfer „definitiv abgefunden“ und könne „keinerlei Ansprüche mehr stellen“.

Schon diese Passage des Juristenbriefs missfiel Norbert Denef, doch ein Passus im eigentlichen Vertrag trieb ihm Zornesröte ins Gesicht: Er solle „alles unterlassen“, hieß es da, „irgendwelche Informationen über die angeblich schädigenden Handlungen oder über die Zahlung eines Geldbetrages … Dritten gegenüber zu äußern …“

Mit anderen Worten: Er sollte sich verpflichten, über den Missbrauch weiter zu schweigen, so wie er jahrzehntelang geschwiegen hatte, aus Angst, Scham und Schuldgefühl. Denef lehnte ab. Zwei Jahre lang rang das Magdeburger Bistum noch mit ihm. Schließlich gab die Kirche klein bei und verzichtete auf die Schweigeverpflichtung. Vorvergangene Woche überwies sie ihm seine Entschädigung – ein beispielloser Fall in der Geschichte der katholischen Kirche Deutschlands.

Möglich wurde das erst durch einen Kurswechsel der Gottesmänner, der nach zahlreichen Enthüllungen über kirchliche Sexskandale nötig geworden war. Im Herbst 2002 entwickelten die deutschen Bischöfe neue „Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche“. Kardinal Karl Lehmann pochte auf einen besseren Opferschutz, Anlaufstellen sollte es geben, Fürsorge, genaue Prüfung von Missbrauchsfällen und ein Ende der Heimlichtuerei: „Eine angemessene Information der Öffentlichkeit wird gewährleistet, wenn nötig, ein Netzwerk angeboten, das einer Isolation des Opfers und seiner Familie entgegenwirkt.“

Erstmals schöpfte Norbert Denef Hoffnung, dass sich die Verantwortlichen der Kirche endlich seiner Geschichte annehmen, dass ihm zugehört werde

Sein ganz privater Leidensweg begann an einem sonnigen Frühlingstag im Jahr 1958. Er war neun Jahre alt und stolz darauf, endlich Messdiener in der Kirche „Unbefleckte Empfängnis Mariens“ in Delitzsch nahe Leipzig zu sein. Nach dem Gottesdienst nahm ihn Pfarrer Alfons Kamphusmann mit ins Pfarrhaus. Im Erdgeschoss war die Bücherei untergebracht. Doch der Pfarrer zog den Jungen nach oben in seine Privaträume. Er verschloss die Tür zum Treppenhaus, setzte sich und zog den Jungen auf seinen Schoß.

Heute, mit 56 Jahren, träumt Norbert Denef immer noch von dieser Wohnung. Von dem Bett im Schlafzimmer, der Kniebank gleich daneben, von der buntgemusterten Tapete im Wohnzimmer, dem dunklen Schreibtisch, der an das Sofa grenzte. Vom Sofa aus blickte er als Kind auf ein Astloch im Holz des Schreibtischs. Es war so groß, dass er seinen kleinen Finger hineinstecken konnte. Später waren die Ränder des Loches ausgefranst.

Denefs Martyrium in der Pfarrwohnung erstreckte sich über sieben Jahre. Wenn der Junge mit dem Rücken auf dem Sofa lag und der Pfarrer sich an seinem Geschlechtsteil zu schaffen machte, drehte das Kind den Kopf weg, steckte den Finger in das Loch im Schreibtisch, bohrte darin herum, „bis die Scheiße vorbei war“.

Er konnte mit niemandem reden. Der Pfarrer war ein Freund seiner Familie und feierte oft und gern mit seiner alleinerziehenden Mutter. Sie tanzte mit ihm im Wohnzimmer, sie prosteten sich mit Krimsekt zu. Unmöglich schien es dem Kind, die Mutter ins Vertrauen zu ziehen. Auch in der Schule fragte keiner nach, obwohl Norbert oft zu spät kam. Das war an Tagen, an denen er in der Frühmesse ministrierte und sich vor Angst in die Hosen machte.

Dann rannte er voller Panik nach Hause, wechselte die Kleidung, kam zu spät. Auch nachts nässte er ins Bett, dann schalt ihn seine Mutter, dass er sich schämen sollte. Und schickte ihn zum Gottesdienst.

Eines Tages war Pfarrer Kamphusmann weg, versetzt, plötzlich und ohne Erklärung. Norbert, inzwischen 16 Jahre alt, schloss sich erleichtert dem Chor der Gemeinde an. Er wurde freundschaftlich aufgenommen in einen Kreis von Jugendlichen, die beim Chorleiter ein- und ausgingen und gern miteinander feierten.

An so einem Abend, es war spät geworden, bot ein Kirchenangestellter Norbert Denef an, bei ihm zu übernachten, auf der Couch. Kaum war das Licht aus, kroch der Mann unter Norberts Decke und begann, seinen Bauch zu streicheln. Rasch kam er zur Sache. Es blieb nicht bei einem Mal. Bis zum 18. Lebensjahr des Jungen ging das so, manchmal mehrmals wöchentlich.

Dann erst entzog sich Norbert dem Zugriff seines zweiten Peinigers, lernte seine erste Freundin kennen und zog nach Leipzig. Über den jahrelangen Missbrauch verlor er kein Wort. Er wollte alles vergessen und verdrängen.

Er heiratete, zeugte Kinder. Doch mit 40 kamen schwere Depressionen, chronische Schlafstörungen, Heulkrämpfe und plötzliche Angstschweißausbrüche. Er musste in eine Klinik. Auch dort erzählte er anfänglich nichts, begann jedoch, Bücher über Missbrauch zu studieren. Langsam begriff er, was ihm angetan worden war. Aber erst nach dem Tod seiner Mutter konnte er darüber reden.

Mehr als drei Jahrzehnte nach der ersten Vergewaltigung durch den Pfarrer übte er immer wieder den Satz vor dem Spiegel: „Ich bin sexuell missbraucht worden.“

Im November 1993 sprach er ihn aus. Er nutzte ein Familientreffen, zu dem auch seine Peiniger geladen waren: Pfarrer Kamphusmann und der zweite Täter.

Die Reaktion der Familie war vernichtend. „Du hast so lange geschwiegen“, hielt ihm einer vor, „dann hättest du den Rest deines Lebens auch noch deine Klappe halten können!“ Die beiden Beschuldigten äußerten sich nicht. Die Familie begann, den Unruhestifter zu meiden – bis heute. Doch für ihn war der Damm gebrochen.

Denef reist in seinen Heimatort Delitzsch, geht in die Pfarrerswohnung, in der alles begonnen hatte, und bittet den neuen katholischen Pfarrer der Gemeinde St. Marien um Hilfe.

Der fromme Mann schreibt ihm viele Monate später einen abweisenden Brief. Er möchte nicht, „dass das, was in der Gemeinde gewachsen ist“, von einem „Außenstehenden kaputtgemacht wird“. Darum könne er ihn nicht dabei unterstützen, den sexuellen Missbrauch öffentlich zu machen. „Ich möchte Sie herzlich bitten, die Folgen dessen, was Sie planen, zu bedenken.“ Eine derartige Beichte würde schließlich nicht nur der Gemeinde schaden, sondern auch seine ganze Familie in Delitzsch vernichten.

Nach dieser Abfuhr fällt Norbert Denef in tiefe Depression, spricht wochenlang kein Wort mit seiner Frau und den Kindern. Er beginnt wieder eine Therapie.

Eines Tages schnappt er auf, dass Pfarrer Kamphusmann nun in einer Pfarrei im hessischen Bistum Limburg wirkt, in der er auch mit Kindern zu tun hat. Jetzt kommt Denef in Bewegung. Er fährt hin, stellt den Mann zur Rede, doch der Pfarrer weicht aus. Das ist der Moment, als Denef sich entscheidet. Er greift zum Telefonhörer, wählt die Nummer des Bischofs von Limburg: „Ich möchte Ihnen einen Fall von sexuellem Missbrauch anzeigen.“ Am nächsten Tag schon kommt Generalvikar Günther Geis, hört sich alles an und verspricht schnelles Handeln.

Lange hört Denef nichts mehr, nur vage Andeutungen über ein Geständnis. Er bittet um ein Gespräch mit dem Limburger Bischof Franz Kamphaus. Als er dabei zum ersten Mal das Wort Entschädigung fallen lässt, macht Kamphaus dicht, er solle sich ans Bistum Magdeburg wenden, die seien heute für Delitzsch zuständig.

Kurz darauf stirbt der erste Täter, Pfarrer Kamphusmann. „Freundlich und immer hilfsbereit tat er seinen Dienst“, heißt es in einem Nachruf der Kirche.

Im Januar 2003 zeigt Denef auch den zweiten Täter beim Bistum Limburg an. Der Mann, der ihn ab 1965 missbraucht hatte, war in der Zwischenzeit ins Bistum Limburg übergewechselt und wirkte in einer Frankfurter Kirchengemeinde.

Diesmal reagiert die Kirche prompt. Kurz nach seiner Anzeige erhält Denef einen Brief: In Anwesenheit einer Bistumsjustitiarin habe der Mann wie zuvor der Pfarrer gestanden. Er bestätige „die erhobenen Vorwürfe und bedauert die Tat“. Er habe aber „glaubhaft versichert“, sich im Bistum Limburg keines weiteren Vergehens schuldig gemacht zu haben, und er sei nun „unter besondere Beobachtung“ gestellt worden. Denef wird aufgefordert, seinen Bedarf an therapeutischer Hilfe mitzuteilen: „Bitte lassen Sie mich wissen, ob und wenn ja, in welchem Rahmen Sie Hilfen und Unterstützung vom Bistum Limburg erwarten.“

Norbert Denef freut sich über das Angebot und berechnet die Kosten psychologischer Therapien für sich und seine Familie: 122 850 Euro.

Erschrocken revidiert Generalvikar Geis das Hilfsangebot des Bistums Limburg und verweist ihn – gemäß des Verursacherprinzips – zurück nach Magdeburg. Er bestätigt immerhin „ausdrücklich, dass Pfarrer Kamphusmann im Gespräch mit mir nach Ihrer Anzeige den sexuellen Missbrauch an Ihnen als Kind gestanden hat“.

Mit den schriftlichen Belegen des Bistums Limburg wendet sich Denef an den Bischof von Magdeburg.

Der Bistumsjurist beschwichtigt zunächst: Das Unrecht an ihm erkenne man an, aber „mit Sicherheit hat die Bischofskonferenz“ mit ihren neuen Leitlinien „nicht lediglich die Überweisung einer Geldsumme im Auge gehabt, weil sich zugefügtes Unrecht, wie in ihrem Fall geschehen“, nicht einfach „mit einer Geldsumme aus der Welt schaffen lässt“. Dafür sei „eine gesprächsweise Aufarbeitung“ nötig.

Denef trifft sich zu einem Gespräch mit einem Psychiater der Kirche, die Therapie konnte das nicht ersetzen.

So erkundigt sich das Bistum in der Klinik, in der Denef in Behandlung ist, nach den nötigen Therapien und deren Kosten. Erschrocken darüber, wie teuer das sein könnte, und „um die unerquickliche Auseinandersetzung zu beenden“, macht die katholische Kirche das freiwillige Angebot über 25000 Euro – als Ausdruck, dass die Leitlinien der Bischofskonferenz „nicht nur leere Worte“ sind.

Allerdings fühle man sich nur für die Misshandlungen durch den Priester verantwortlich. Im Fall des Kirchenangestellten gelte das Arbeitsrecht. Da dieser kein Geistlicher sei, müsse Denef ihn selbst zivilrechtlich belangen. Dabei haben die Bischöfe in Ziffer 9 der Leitlinien die Vorgehensweise „bei anderen kirchlichen Mitarbeitern“ für entsprechend anwendbar erklärt. Doch Denef ist kampfesmüde geworden. Zwölf Jahre nachdem er die Kirche von den triebhaften Verfehlungen ihres verirrten Hirten informiert hatte, akzeptiert er vorvergangene Woche die 25 000 Euro Entschädigung.

Genervt von der „unerquicklichen Auseinandersetzung“, hatte der Bischof von Magdeburg das Geld überweisen lassen.

Mit dem Opfer gesprochen hat er kein einziges Mal.