Leseprobe aus dem Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“ von Norbert Denef

Die Schweigeklausel

Ein Verantwortlicher des Bistums Limburg teilte mir in einem Telefongespräch mit, dass jedes Bistum über zwei unterschiedliche Aktenarchivlager verfügt. Eines davon ist streng geheim, zu dem nur der Bischof oder ein von ihm Beauftragter Zugang hat. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es keine Unterlagen über die Gründe der Versetzungen mehr geben sollte.

Pfarrer K. wurde in folgende Gemeinden versetzt: Propstei zu Halle, Droyßig, Delitzsch, Nordhausen, Langenweddingen, Hecklingen, Wittenberg-Piesteritz und Niedertiefenbach. Er meinte, es sei auffällig, dass ein Pfarrer von Delitzsch nach Nordhausen und damit in ein anderes Bistum versetzt worden sei. Diese Tatsache lege den Gedanken nahe, dass es sich dabei um eine Versetzung aus einem bestimmten Grund handelte.

Nordhausen, ein besonderer Ort. Zwei Jahre war Pfarrer K. dort unter Kontrolle. Es wurde ihm untersagt, Kinder und Jugendliche zu empfangen. Doch eine Ausnahme gab es: Einem jungen Verwandten wurde gestattet, im Nachbarhaus bei den Nonnen zu übernachten. Pfarrer K. missbrauchte ihn vom 8. bis zum 15. Lebensjahr.

Kontrolliert wurde Pfarrer K. vom Dechanten und dem Pfarrer der Gemeinde, die beide im gleichen Haus wohnten. Nach seiner Zeit dort bekam der Pfarrer eine Stelle in Langenweddingen, mit einem großen Pfarrhaus, nur allein für sich, ohne jegliche Kontrollmöglichkeiten, ein ideales Nest, um Kinder und Jugendliche Tag und Nacht zu missbrauchen. Nun endlich konnte er sich nach Herzenslust austoben.

Eine Frage von vielen, die mir der Anwalt des Bischofs von Magdeburg stellte, war, ob ich bereit wäre, mich einem Gespräch mit einem noch auszuwählenden Sachverständigen zu stellen, damit in diesem Gespräch die Notwendigkeit einer Therapie ermittelt werden könnte. Ich sollte nachweisen, ob ich Schäden durch den sexuellen Missbrauchs davongetragen hätte.

Bisher hatte ich versucht, meine Schäden zu verdrängen, suchte krampfhaft nach anderen Namen für die Beschwerden, um nicht sagen zu müssen, dass sie im Zusammenhang mit dem Missbrauch stehen. Mir fehlte der Mut einzugestehen, wie sehr mein ganzes Leben durch die sexuelle Gewalt geprägt war.

Wenn in den Medien über sexuellen Missbrauch berichtet wird, dann meist in Verbindung mit brutaler körperlicher Gewalt. Dann schreien alle: „Schneidet dem Mörder den Schwanz ab“ oder „Steckt ihn für immer hinter Gitter“. Wut und Hass richten sich gegen den Täter. Über die Folgen, die ein Opfer ein Leben lang ertragen muss, wird meist geschwiegen.

In der Regel aber findet sexuelle Gewalt im Verborgenen statt. Darüber berichten die Medien nur sehr selten, wenn überhaupt.

Schaut man sich die Pressemeldungen an, wenn es um Urteile über sexuellen Missbrauch geht, wo es um ganz ‚normale‘ sexuelle Gewalt geht, also ohne ‚körperliche Gewalt‘, dann findet man in der Regel Urteilssprüche auf Bewährung. Das sind Schläge in das Gesicht des Opfers! Da ist es besser dran, wenn es schweigt. „Das kann ja nicht so schlimm gewesen sein!“, bekommt es zu hören.

Ich will anmerken, dass es keine sexuellen Misshandlungen ohne körperliche Gewaltanwendung gibt. Kein Kind will, dass man an seinen Genitalien, wie auch immer, herummacht. Körperliche Gewalt existiert auch, wenn sich das Kind nicht wehrt!

Das Unwissen darüber, welcher Schaden durch sexuelle Gewalt entsteht, ist sehr groß und die Bereitschaft, sich darüber zu informieren, sehr gering. Man greift das Opfer an und fordert es auf, Schäden nachzuweisen und versucht es dadurch wieder zum Schweigen zu bringen – in der Regel gelingt das.

Der Anwalt des Bistums Magdeburg forderte mich auf, einen Nachweis meiner Schäden durch den sexuellen Missbrauch zu erbringen. Ich stand vor der Entscheidung wieder zu schweigen oder den angefangenen Bruch meiner Schweigemauer fortzusetzen. Dies würde bedeuten, andere in meine Seele schauen zu lassen. Genau dazu hatte ich mich entschieden!

Ich beauftragte einen Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, um auf die Forderungen des Bistums Magdeburg einzugehen. In seinem Gutachten wurden die von mir angegebenen Beschwerden bestätigt und eindeutig in den Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs gestellt.

Daraufhin erstellte der Anwalt des Bistums Magdeburg einen Fragenkatalog an den Gutachter. Er schrieb: „Mich bewegen im Augenblick folgende Fragen, die auch für die Beurteilung unter juristischen Aspekten von Bedeutung sind. In welchem Umfang lassen sich bei einem so lange zurückliegenden traumatischen Erlebnis aktuelle Krankheitssymptome mit akuten Auswirkungen beschreiben? Hat ein – im großen Umfang offenbar – normales Leben mit einer Familie und Kindern nicht zu einer Normalisierung des Lebensgefühls beigetragen? Welche konkreten Heilungschancen, bzw. Linderungsmöglichkeiten der Beschwerden können nach so langer Zeit ärztlich feststellbar erreicht werden? Ist bei derartigen lange zurückliegenden traumatischen Erlebnissen eine stationäre Behandlung dringend erforderlich und wenn ja, warum? Warum lässt sich nicht auch durch eine regelmäßige ambulante Betreuung ein entsprechender Effekt erreichen? Wie könnte ein konkreter Therapieplan nach Ihrer Auffassung aussehen? Wie lange müsste die stationäre Behandlung nach Ihrer Auffassung sein? Wie lange müsste daran anschließend vermutlich notwendige ambulante therapeutische Behandlung sein? Wären Sie in der Lage, die notwendigen Behandlungskosten nach Beträgen aufgeschlüsselt auf die einzelnen Kostenpositionen zu spezifizieren? Welches Profil hat das Krankenhaus? Ist es ein Spezialkrankenhaus für derartige psychotherapeutische Behandlungen oder ist es ein Allgemeinkrankenhaus, das über eine entsprechende Abteilung verfügt?“

Nach dem der Gutachter auf den Fragekatalog ausführlich geantwortet hatte, teilte mir der Anwalt des Bistums Magdeburg folgendes mit: „In Auswertung der gutachterlichen Ausführung von Dr. E. sehe ich nunmehr eine Möglichkeit, die unerquickliche Auseinandersetzung zu beenden.“

Dem Anwalt ging es nicht schnell genug die Angelegenheit zu bereinigen: „Sobald Sie mir diese Vereinbarung unterschrieben zurückgesandt haben, werde ich veranlassen, dass Ihnen der Betrag von 25.000 Euro angewiesen wird.“

Von einem Hilfsangebot konnte keine Rede sein, da ich in der Vereinbarung folgende Schweigeklausel unterschreiben sollte:

„Der Anspruchsteller wird in Zukunft alles unterlassen, irgendwelche Informationen über die angeblich schädigenden Handlungen oder über die Zahlung eines Geldbetrages zur finanziellem Unterstützung der therapeutischen Maßnahmen Dritten gegenüber zu äußern oder solche Äußerungen durch Mittelspersonen zu veranlassen. Dem Anspruchsgegner steht im Falle einer Zuwiderhandlung gegen diese Verpflichtung des Anspruchstellers das Recht zu, die gesamte Abfindungssumme von 25.000 Euro zurückzufordern.“

Vom Angebot des Bistums Limburg, mir helfen zu wollen, bis zur Vereinbarung der Schweigeklausel durch das Bistum Magdeburg waren zwischenzeitlich neun Monate vergangen. In dieser Zeit hatte ich Hoffnung, wirkliche Hilfe durch die katholische Kirche zu bekommen. Der Maulkorb von 25.000 Euro war für mich ein Schlag ins Gesicht. Ohne dass je ein Vertreter des Bistums Magdeburg mit mir gesprochen hatte, versuchte man die „unerquickliche Auseinandersetzung“ mit Geld zu beenden. Eine Aufarbeitung der Verbrechen sollte auf diese Art verhindert werden.
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Mein Buch ist nicht mehr über den Buchhandel zu bestellen, da ich die restlichen Exemplare von meinem Verlag erworben habe. Ich habe wieder das Recht über mein Buch, meine Geschichte, selbst zu bestimmen – ich wollte frei sein.

Meine Restexemplare sind leider alle vergriffen, da die Nachfrage stark angestiegen ist. Ich arbeite an einer erweiterten Neuauflage und suche für dieses Projekt noch einen Verlag.

Herzliche Grüße Norbert Denef (12.05.2013)