Von Johann Caspar Rüegg
Angeboren oder erworben – Gene oder Umwelt? Ohne Frage spielen bei der Entstehung psychosomatischer Störungen biologische Faktoren – vor allem veränderte Gene – eine gewichtige Rolle . Doch ebenso bedeutsam sind erlittener Stress und traumatische frühkindliche Erfahrungen.

„Eine belastete Kindheit kann nicht nur das seelische Wohl eines Menschen lebenslang schädigen, sondern auch die körperliche Gesundheit“, sagt Seth Pollak, Professor für Psychologie an der Universität Wiskonsin in Madison.

Er hatte in einer unlängst in den Proceedings of the National Academy of Science veröffentlichten Studie mitgeteilt, dass Jugendliche, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, ein beeinträchtigtes Immunsystem hatten. Und dies war auch bei denjenigen der Fall, die ihre frühe Kindheit – vernachlässigt und ohne adäquate Betreuung – in rumänischen oder russischen Waisenhäusern verbracht hatten.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die traumatischen Erfahrungen, die misshandelte oder vernachlässigte Kinder machen, „gehen unter die Haut“, sie hinterlassen psychobiologische Narben. Diese können sogar im Erbgut „eingebrannt“ sein, sie verändern bestimmte Gene – „epigenetisch“, meint der Biopsychologe Michael Meaney.

Blick ins Gehirn

Er hatte zusammen mit seinen Kollegen von der McGill Universität in Montreal nachgewiesen, dass traumatische frühkindliche Erfahrungen tief greifende Spuren im Erbgut hinterlassen (Nature Neuroscience, Band 12, S. 342-348). Seine Versuchspersonen lebten allerdings nicht mehr. Es handelte sich nämlich um zwölf Suizidopfer, alle etwa Mitte 30, die als Kind sexuell missbraucht, immer wieder geschlagen oder auf eine andere Weise traumatisiert wurden.

Die Forscher hatten aus dem Gehirn der Verstorbenen bei der Autopsie den Hippocampus herausgeschnitten, jene Hirnregion, die für das Speichern von Erinnerungen zuständig ist. Dann isolierten sie aus dem Hirngewebe ein NR3C1 genanntes Gen, von dem man vermutet, es schütze vor Stress und Depressionen. Die Überraschung: An Teile seiner DNA waren häufig Methylgruppen angelagert, jedenfalls das Vielfache dessen, was im entsprechenden Gen der nicht traumatisierten Verstorbenen gefunden wurde.

Durch diese chemische Veränderung – die Methylierung – wurde die Aktivität des Anti-Stress-Gens beträchtlich eingeschränkt. Jedenfalls konnte die im Antistress-Gen kodierte genetische Information weniger gut abgelesen werden als in den Kontrollen. Darin sahen die Forscher einen Hinweis, dass die neuronale „Stressbremse“ gewissermaßen lahmgelegt war.

War das vielleicht eine (Mit-) Ursache dafür, dass sich die Suizidopfer das Leben genommen hatten? Offenbar nicht. Denn zwölf weitere, etwa gleich alte Suizidopfer wiesen im Methylierungsmuster des entsprechenden Gens keine Veränderungen auf – vermutlich, weil sie in ihrer Kindheit niemals misshandelt oder in anderer Weise traumatisiert wurden.

Eine Frage der Epigenetik

Die Schlussfolgerung: Es ist nicht etwa der mit dem Suizid verbundene Stress, sondern die frühkindliche Traumatisierung die „unter die Haut geht“ und im Genom der Betroffenen die verhängnisvollen chemischen Spuren hinterlässt – lebenslang.

Durch die neuen Erkenntnisse ist deutlich geworden, dass die Frage „Gen oder Umwelt“ nicht einfach mit einem „entweder oder“ beantwortet werden kann. Vielmehr geht es darum, wie Umweltfaktoren auf Gene einwirken, sie chemisch verändern und dabei ein- oder abschalten – eine Frage der Epigenetik.

Damit bewahrheiten sich Erkenntnisse, die Michael Meaney und seine Kollegen schon vor Jahren gewonnen hatten, allerdings durch Untersuchungen an Ratten. Die kanadischen Forscher konnten bereits 2004 nachweisen, dass bei den Jungen von Ratten, die von ihren Müttern vernachlässigt wurden, das besagte Anti-Stress-Gen viel stärker mit Methylgruppen beladen war als bei den Rattenbabys aus dem gleichen Stamm, die nach der Geburt häufig geleckt und damit gut gepflegt und gehegt wurden.

Die Aktivität des Gens war somit stark reduziert, das Gen quasi abgeschaltet. Und dem entsprechend hatten die betroffenen Jungen nur eine geringe Resistenz gegen Stress, und dazu waren sie auch noch überaus furchtsam.

Bei guter mütterlicher Pflege verloren Rattenbabys die – bei der Geburt noch vorhandene – Methylhülle um das Anti-Stress-Gen bereits in der ersten Lebenswoche. Dies war aber auch bei den vernachlässigten Jungen der Fall, wenn sie spätestens zwölf Stunden nach der Geburt ihren Müttern weggenommen, von einer fürsorglichen Ratte adoptiert und dann mindestens acht Tage lang gut bemuttert wurden.

Solche Adoptionsexperimente ließen zwei Schlüsse zu. Erstens: Nicht Vererbung, sondern die Qualität der Beziehung zwischen dem Kind und seiner Mutter (oder Ersatzmutter) beeinflusst die DNA-Methylierung und damit die Wirksamkeit des Gens. Zweitens: Die chemische Veränderung am Gen ist im Prinzip reversibel – zumindest im Tierversuch.

Und noch eins.

Sogar bei ausgewachsenen Ratten konnten die Methylgruppen wieder von der DNA abgehängt werden. Dazu war allerdings eine Art von Gen-Therapie mit einem Wirkstoff namens Trichostatin erforderlich. Die in die Hirnkammern injizierte Substanz bewirkte, dass das Anti-Stress-Gen einen Teil seiner Methylhülle verlor. Dadurch wurde es aktiviert, und die von ihm programmierten Proteine konnten im Hirn gebildet werden.

Warum die vom Anti-Stress-Gen programmierten Proteine die Stress-Resistenz erhöhen ist unschwer zu verstehen. Es handelt sich nämlich um Eiweißkörper auf der Oberfläche gewisser Nervenzellen des Gehirns, die Stresshormone wie Cortisol binden. Wenn nun bei Stress zu reichlich Cortisol in die Blutbahn ausgeschüttet wird, so reagiert das Hormon mit den besagten Proteinen, seinen „Rezeptoren“ im Gehirn, vor allem im Hippocampus. Letzterer hemmt daraufhin die Stressreaktion.

Umgekehrt erhöht ein Mangel an Stresshormon-Rezeptoren die Anfälligkeit für Stress. Die betroffenen Tiere werden geradezu ängstlich, ja sogar depressiv.

Nun möchte man aber gerne wissen, ob die an Ratten gewonnenen Erkenntnisse auch für uns Menschen relevant sind. Insbesondere: Hängt die Resistenz gegen Stress von der Zuwendung ab, die das Neugeborene von seiner Mutter oder einer anderen Beziehungsperson erhält?

Vernachlässigung und Traumatisierung

Bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts beobachtete der amerikanische Psychologe René Spitz, dass sich alleingelassene und vernachlässigte Säuglinge schlecht entwickelten, sofern sie keine zuverlässige Bezugsperson hatten. Sie wurden ängstlich und depressiv und blieben in ihrer Entwicklung weit zurück.

Unlängst untersuchten Amie Hane und Nathan Fox von der Universität Maryland 185 Paare von Müttern und Kindern und teilten sie in zwei Gruppen ein. In der ersten Gruppe waren Kinder und deren Mütter, die sich um ihre Kleinen nach der Geburt intensiv kümmerten.

Die Mütter in der zweiten Gruppe schenkten hingegen ihren Nachwuchs nur wenig Aufmerksamkeit. Die schon im ersten Lebensjahr vernachlässigten Kleinkinder dieser Gruppe reagierten viel stärker auf Stress, sie waren weniger belastbar als jene der anderen.

Insbesondere dank Seth Pollaks und Michael Meaneys Studien wissen wir nun aber auch, dass Vernachlässigung und Traumatisierung im frühen Kindesalter nicht nur seelische, sondern auch nachhaltige Spuren im Immunsystem und in den Genen hinterlassen können.

Quelle:

http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/?em_cnt=1983706&em_cnt_page=1