Von Hannes Stein 31. Oktober 2009

Mehrere Diözesen melden nach Zahlungen an Missbrauchsopfer Insolvenz an – Kritiker: Nur ein Trick

New York – Der Erzbischof von Baltimore ist traurig. „Aufgewühlt und betrübt“ habe ihn die Nachricht, dass kürzlich die benachbarte Diözese von Wilmington ihre Insolvenz angemeldet hat, teilte Hochwürden Edwin Frederick O’Brien in einer Erklärung im Internet mit. Seine „Solidarität und Unterstützung“ gelte „unseren katholischen Brüdern und Schwestern in der Diözese Wilmington und allen, die von dieser schmerzlichen und unglückseligen Entscheidung betroffen sind“. Im Übrigen weist der Erzbischof auf seine „lang anhaltenden und weitergehenden Bemühungen“ hin, „den Opfern sexuellen Missbrauchs durch Priester und andere, die unsere Kirche repräsentieren, Heilung zu bringen“.

Die Diözese Wilmington liegt in den Bundesstaaten Delaware und Maryland an der Ostküste der Vereinigten Staaten und betreut insgesamt 230 000 Katholiken. Sie ist beileibe nicht die erste katholische Gemeinschaft in den USA, die nach „Kapitel 11“ des amerikanischen Insolvenzrechts ihren Bankrott erklärt hat. Ihr gingen voraus: Davonport in Iowa, Fairbanks in Alaska, Portland in Oregon, San Diego in Kalifornien, Spokane in Washington und Tucson in Arizona. All diese Diözesen mussten den Offenbarungseid leisten, weil die Schadensersatzforderungen jener Männer und Frauen, die als Kinder von katholischen Würdenträgern sexuell missbraucht wurden, das Budget gesprengt haben.

Vielleicht war die Pleite in jedem Fall redlich erworben, vielleicht war sie aber auch betrügerisch. Betrübt ist deshalb nicht nur der Erzbischof von Baltimore. „Die Arroganz der Diözese bei den Verhandlungen habe ich in keiner anderen Art von Verhandlung erlebt, die ich je hatte“, sagte Robert Jacobs, einer der Opferanwälte. Die Berufung auf „Kapitel 11“ kam – Zufall oder nicht? – zu einem extrem günstigen Zeitpunkt: just am Vorabend eines Prozesses, der die Diözese gezwungen hätte, auch über Fälle Rede und Antwort zu stehen, die schon sehr lange zurückliegen. Dazu muss man wissen, dass das amerikanische Insolvenzrecht sehr viel milder ist als das in den meisten europäischen Ländern. Wer nach „Kapitel 11“ pleitegeht, behält meist die Kontrolle über seine Firma; der Betrieb wird nicht liquidiert, sondern nur unter Gerichtsaufsicht neu organisiert. Dahinter steht die Idee, dass eine bankrotte Firma, die weiterarbeitet, eher imstande ist, die Forderungen ihrer Gläubiger zu erfüllen.

Kritiker wenden hingegen ein, dass „Kapitel 11“ unfähigen Managern erlaubt, mit einem blauen Auge gerade noch davonzukommen. Bartholomew J. Dalton, der einer Anwaltskanzlei angehört, die mehr als 50 Missbrauchsopfer repräsentiert, geißelte die katholische Amtskirche von Delaware mit scharfen Worten: „Die Diözese von Wilmington hat ihren Bankrott nur aus einem einzigen Grund erklärt: Um Hunderte von Verhandlungen wegen Kindesmissbrauchs im gesamten Bundesstaat zum Stillstand zu bringen. Es handelt sich um einen kalkulierten und verwerflichen legalen Trick, der Opfer von sexuellem Missbrauch um die Chance bringt, vor Gericht auszusagen. … Einfach ausgedrückt, hat dieser Antrag nichts mit Geld zu tun, aber alles mit Geheimniskrämerei.“

Freilich: Opferanwälte sind keineswegs objektiv, auch sie vertreten und haben handfeste Interessen. Bischof W. Francis Malooly, der Hirte der Diözese von Wilmington, sagte im Gegensatz zu den Anwälten, die Bankrotterklärung sei die beste Möglichkeit gewesen, Versöhnung mit den (und Entschädigung für die) Opfer sexuellen Missbrauchs zu bewirken: „Uns wurde in unseren Verhandlungen klar, dass die Sache mit der Summe, die von früheren Opfern verlangt wurde, und der Endsumme, die uns zur Verfügung stand, nicht funktionieren würde.“ Seine Diözese hatte mit ungefähr einem Dutzend Opfern verhandelt, acht von ihnen hatten schon Termine vor Gericht vereinbart. Insgesamt mehr als 100 Missbrauchsopfer verlangen zudem außergerichtlich eine finanzielle Entschädigung.

Es geht um schwindelerregend hohe Summen: Seit dem Jahr 2002 hat die Diözese mehr als 6,2 Millionen Dollar an acht Opfer bezahlt, ihre Versicherung deckte nur einen Bruchteil davon ab. Nachdem die Diözese ihre finanziellen Verhältnisse offenlegen musste, wurde klar, dass sie über Aktivposten im Wert von 50 bis 100 Millionen Dollar verfügt. Die Kläger aber wollen zwischen 100 und 500 Millionen Dollar sehen. Und es geht immer weiter. Ständig werden in Amerika katholische Gemeinden von ehemaligen Missbrauchsopfern zur Kasse gebeten. Die Diözese von Belleville im Bundesstaat Illinois etwa hat gerade einem ehemaligen Messdiener, der vom Gemeindepfarrer sexuell belästigt wurde, 1,2 Millionen Dollar gezahlt.

Am Ende wird sich womöglich nur eine Frage stellen: ob Teile der katholische Kirche in den USA ihren finanziellen oder nach „Kapitel 11“ ihren moralischen Bankrott anmelden.

Quelle:

http://www.welt.de/die-welt/politik/article5034667/Offenbarungseid-amerikanischer-Katholiken.html