Sie ist ein Schulkind, als der Großvater sie missbraucht. Jahrzehntelang verschweigt sie ihr schrecklichstes Geheimnis. Erst als sie psychisch krank wird, spricht sie darüber – und stellt fest, dass es zu spät ist. Sein Verbrechen ist verjährt.

Von Christina Keck

Sie hat sich schlafend gestellt. Die Augen fest geschlossen, der kleine Körper bewegungslos wie ein Stück Totholz. Kein Wort kam über ihre Lippen, kein Schluchzen. Sie lag auf einer aufgeklappten Schaumstoffmatratze, auf der ihr Großvater erst die Rheumadecke ausgebreitet hat, dann das Leintuch, das er danach in die Reinigung trug, um die Flecken entfernen zu lassen.

Bloß nicht blinzeln. Sie wollte nicht sehen, was nicht sein darf, und hat sogar ihre einzige Verbündete aus dem Zimmer verbannt, die Pudeldame Finni mit ihren schwarzen Knopfaugen. Sie schämte sich vor ihr.

Als es losging mit dem Unaussprechlichen war Antje Gruber, die so nicht wirklich heißt, gerade eingeschult worden. Ein fröhliches Mädchen, blond, mit Zöpfen, aus einer gutbürgerlichen Familie.

Sie hat sich ausgezogen, weil ihr Großvater, bei dem sie so oft war, den sie doch über alles liebte, es so wollte.

Deshalb erduldete sie seine Perversionen. Ertrug ihn auf der schmalen Schaumstoffmatratze in seinem Büro bei Stuttgart und nachts in seinem Schlafzimmer, wenn sie bei ihm übernachten sollte, und in den Hotels im gemeinsamen Urlaub. Sieben Jahre lang verging sich der heute 97-jährige Mann an seiner Enkelin.

Nie hat sie Stopp gesagt, sich gewehrt oder geschrieen. Und keiner will etwas davon mitbekommen haben.

„Ich fühlte mich als Mittäterin“, erinnert sich Antje Gruber. Sie spricht leise, aber entschieden, wenn sie von damals erzählt. Greift immer wieder auch zum Wasserglas und trinkt, als müsse sie den Kloß wegspülen, der sie in der Kehle drückt. „Ich wollte, dass er endlich bestraft wird“, drängt sie und kann nicht fassen, was ihr die Staatsanwaltschaft Stuttgart mitgeteilt hat: dass da leider nichts mehr zu machen sei. Die Taten des Großvaters sind verjährt.

Bei sexueller Nötigung oder Vergewaltigung eines Kindes endet die Verjährungsfrist je nach Schwere des Übergriffs zehn bis 20 Jahre nachdem das Opfer volljährig wurde, sprich: mit dessen 28. oder 38. Geburtstag. Und Antje Gruber ist 39.

Sie hat sich ein Jahr zu spät getraut, den Mann anzuzeigen, der ihr Leben zerstört hat.

In der Schweiz hat vor einem Jahr der Kinderschutzverein Marche Blanche ein Referendum angestoßen, um die Verjährung von Sexualdelikten zu kippen. Mit knapper Mehrheit stimmten die Eidgenossen im November 2008 dafür, dass Kinderschänder bis an ihr Lebensende nicht vor Strafverfolgung sicher sind.

Für die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, SPD, war das kein Vorbild. Und auch ihre Nachfolgerin im Amt, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, die doch seit Jahren schon Schirmherrin des Opferschutzvereins „Dunkelziffer – Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder“ und Mitglied des „Deutschen Kinderschutzbundes“ ist, wird nicht tätig. Man habe im Verjährungsbereich ein „ausgewogenes System“, an dem etwas zu ändern man keinen Anlass sehe, ließ sie auf Anfrage mitteilen.

Dabei brauchen gerade diese Opfer, die das Verbrechen, das ihnen angetan wurde, oft weit verdrängt haben, tief versteckt, so wie Antje Gruber viel Zeit, um eines Tages über das zu sprechen, was sie sprachlos machte, sagen deren Betreuer, Vertreter, Anwälte.

Erst war es die Angst, den Großvater wütend zu machen, die sie schweigen ließ. Sie hätte ihn verraten müssen, die Heimlichkeiten aufdecken. Nie waren Kollegen in seinem Büro. Niemand durfte davon erfahren, außer dem Hündchen Finni, dem sie es ins Ohr flüsterte, und dem Tagebuch – dick, kariert, geduldig. Später ging es um die Ehre der Familie. Den guten Namen. Was hätten die Nachbarn gesagt, wenn das herausgekommen wäre? Wären die Eltern wütend gewesen? Nur einmal hat sie es aufgezeichnet auf einem Blatt Papier: der Kopf mit Haarkranz, der Mund, der ihr immer die Küsschen gab. „Großvater ist böse“, hat sie darüber geschrieben und gehofft, dass es jemand sieht. Doch es gelangte in die Finger des Falschen. Ihr Peiniger zerknüllte die Zeichnung, warf sie weg und schimpfte die Undankbare aus. Dann musste sie ihren Ungehorsam wieder gutmachen.

Jahrzehntelang behielt Antje Gruber also ihr größtes und schrecklichstes Geheimnis für sich. Nicht einmal ihrem Freund, mit dem sie zusammengezogen war, erzählte sie davon. Bis eines Tages ihr Körper rebellierte und sie nicht mehr essen konnte. Eine Dattel zu Mittag, abends ein paar Nudeln, die Großgewachsene verlor ein Kilo ums andere, dazu die dunklen Ringe unter den Augen von den Nächten des Grübelns. Sie konnte nicht mehr schlafen, dachte nur noch an eines, das unaufhaltsam näherrückte: den 60. Geburtstag ihrer Mutter, der Tag, an dem sie mit ihrem Großvater wieder an einem Tisch sitzen würde.

Sie wollte nicht mehr stillhalten.

Das könne so nie vorgefallen sein, ganz unmöglich, blockte ihre Mutter ab und atmete auf, als sie hörte, dass keine körperliche Gewalt angewendet worden war.

Sie wisse von nichts, behauptete die Großmutter.

Armes Ding, bedauerten sie die Verwandten, und man war sich einig, den Kontakt zum Kinderschänder abzubrechen. „Warum hat damals keiner den Mut besessen, ihn anzuzeigen?“, fragt Antje Gruber und zweifelt an der Loyalität ihrer Familie. Und: „Welche Kinder saßen noch auf seinem Schoß?“

Über den Missbrauch von Kindern gibt es nur wenige Zahlen. Das Bundeskriminalamt spricht von rund 15 000 Kindern unter 14 Jahren, die jedes Jahr in Deutschland sexuell misshandelt werden. Die Experten vom Opferschutzverein „Dunkelziffer“ sind sicher, dass die meisten Taten unentdeckt bleiben. Sie gehen von bundesweit jährlich 200 000 Fällen aus. Das Schwierigste sei, die Taten im Nachhinein hieb- und stichfest zu beweisen, sagt die Opferanwältin Anke Sefrin. Mithilfe eines Gutachtens müsse die Glaubwürdigkeit der Aussage überprüft werden. Für die Missbrauchten eine oft unerträgliche Tortur.

Der Großvater lebt inzwischen in einer Wohnanlage bei Stuttgart. Spricht man ihn an auf das, was seine Enkelin erzählt, braust er auf. „Alles erstunken und erlogen“, sagt er am Telefon. Üble Hetze sei das gegen ihn, der pure Hass. Warum ihm jemand Böses wolle, könne er sich überhaupt nicht erklären. „Wie kann sie so etwas einem alten Mann nur antun?“

Zusammen mit ihrer Therapeutin hat Antje Gruber es dann gewagt, sie hat die Aufarbeitung begonnen. Spuren von damals aufgenommen. Auch den Täter gestellt, den Großvater.

„Ich wäre beinahe umgekehrt“, erzählt Antje Gruber und ist stolz darauf, die Konfrontation ausgehalten zu haben. Sie hat ihn überrascht und zur Rede gestellt. Sie hat ihn beschimpft in seinem Wohnzimmer, ihm gesagt, dass er für das, was er mit ihr gemacht hat, büßen müsse. „Soll ich dafür jetzt Gift nehmen?“, sei seine lakonische Antwort gewesen, sagt Antje Gruber und dass sie sich wieder so hilflos gefühlt habe wie früher.

Als Erwachsene schaut sie sich an, was sie so lange verdrängt hat. Das ist Steinbrucharbeit. Manches kommt nie zutage, manches bricht an unerwarteter Stelle auf, wo Antje Gruber glaubte, keine Erinnerung zu haben. „Mein halbes Leben ist wie ausgeblendet“, sagt sie, vieles sei im Dunkeln verschwunden, hinter den fest verschlossenen Augen, die die erlebten Grausamkeiten ausblenden wollten. Geblieben sind ihr die Ängste. Wenn ihr jemand mit einer Bierfahne zu nahe kommt, spürt sie es – das flaue Gefühl im Magen, das plötzliche Herzrasen, den Ekel, wie er hochstieg, als sich der Mund des Großvaters ihr näherte.

Es sind Gerüche, die das Verdrängte freilegen. Schweiß. Sperma. Der abgestandene Mief im alten Treppenhaus, dessen Stufen sie hinaufgehen musste in das ehemalige Büro mit der Schaumstoffmatratze. Mit der Therapeutin an ihrer Seite wagte sie die Rückkehr an den Tatort. Längst hat sich in den renovierten Räumen eine Familie eingerichtet, die nicht ahnt, was für Verbrechen in ihrem Schlafzimmer begangen wurden.

„Das Schlimmste war das Bad“, erzählt Antje Gruber und wird noch ein bisschen blasser im Gesicht. Die grau geflammten Steinzeugfliesen, die Enge und das Gefühl von früher, es wieder mal überstanden zu haben. Am Waschbecken spülte sie das Sperma an ihrem Körper weg, die schmierige Vaseline. Die Verletzungen an der Seele konnte sie nicht wegschrubben.

Es gibt die leichten Tage, an denen Antje Gruber Freunde trifft, im Fitnessstudio Kraft tankt oder sich einfach aufs Sofa legt. Es gibt die anderen Tage, da überlegt sie sich, wie es wäre, einen kleinen Fahrfehler zu begehen. Sie müsste das Steuer nur ein bisschen drehen, um die Schwere nie wieder zu spüren. Seit sie die Psychotherapie begonnen und das Schweigen beendet hat, geht es ihr besser. „Ich kann allen Frauen nur raten, aus ihrer Isolation zu kommen“, sagt Antje Gruber, die erst nach dem Tod ihrer Mutter mit der Aufarbeitung begann. „Ich dachte immer, das erledigt sich von allein.“ Ein Irrtum.

Im Fotoalbum finden sich nur wenige Aufnahmen vom Großvater. Eine zeigt ein Mädchen auf dem Schoß eines älteren Mannes, ein gemütlicher Märchenonkel. Beide lachen, es ist Weihnachten. „Ich kann es nicht ansehen“, sagt Antje Gruber angewidert und dreht das Foto um. „Er verdient eine gerechte Strafe.“

Als die Justiz mit der Verjährungsfrist ihr keine Hilfe war, hat sie sich an die Kirche gewandt. Man müsse vergeben, hat der Pfarrer ihr geraten.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 21.12.2009)

Quelle:

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/Vergewaltigung;art1117,2980602