Kinderschänder kann man nicht hart genug bestrafen – so die vorherrschende Meinung in der Bevölkerung. Eine Initiative will nun das Gesetz verschärfen. Doch sie geht selbst Opferhilfeorganisationen zu weit.

Norbert Sommer (Name geändert) war ausser sich: «Ich wollte ihn totschlagen.» Der 42-jährige Solothurner spricht von einem früheren Arbeitskollegen. Dabei kannten sich die beiden gut – der Kollege war zugleich Götti von Sommers Sohn. Dass er auch der Schänder seiner Tochter Sabine war, hatte ihm diese im April des vergangenen Jahres erzählt. «Ich wollte in meiner Wut sofort zu ihm hinfahren. Meine Frau überzeugte mich aber, dass ich besser bei der Polizei Anzeige erstatten sollte», sagt Sommer.

Nach der Anzeige nahm der staatliche Strafverfolgungsapparat seine Arbeit auf – Einvernahmen und Videobefragungen, Anwaltstermine folgten. Am Ende der Strafuntersuchung dann der Schock: Das Verfahren wurde eingestellt. Die sexuellen Handlungen mit dem Kind hätten, so formulierte es die Solothurner Staatsanwaltschaft im Februar lapidar, «nicht rechtsgenügend erhärtet werden können». Jetzt begegnet die elfjährige Sabine jenem Mann, der sie nach ihren Angaben geküsst, im Schambereich angefasst und ihr sein nacktes Glied gezeigt hat, regelmässig in den Strassen ihres gemeinsamen Wohnorts. «Sie kann nicht begreifen, wie so etwas möglich ist», erzählt ihr Vater.

Dass Verfahren im Zusammenhang mit Kindsmissbrauch für die Beschuldigten keine oder nur geringfügige strafrechtliche Konsequenzen haben, sorgt in der Bevölkerung immer wieder für Empörung. Zuletzt etwa im Kanton Thurgau. Dort verurteilte das Bezirksgericht Arbon einen ehemaligen Sekundarlehrer zu 16 Monaten Zuchthaus bedingt. Der Pädagoge hatte drei seiner Schüler wiederholt sexuell missbraucht. Auch das Bezirksgericht Zürich beliess es beim Urteil gegen den ehemaligen Datenschutzbeauftragten der Stadt Zürich bei einer bedingten Strafe. Zwölf Monate lautete das Verdikt gegen den Mann, der mehrfache sexuelle Handlungen mit Kindern zugegeben hatte.

Am liebsten die Todesstrafe

Repräsentativ sind solch milde Urteile für Pädokriminelle nicht – so zumindest lautet die Auskunft aus Justizkreisen. «Die Urteile sind seit den spektakulären Fällen Ende der neunziger Jahre» – etwa jenem von Babyquäler René Osterwalder – «klar härter geworden», heisst es bei der Zürcher Staatsanwaltschaft. Wird aber ein Ausreisser nach unten bekannt, macht sich in den Leserbriefspalten Unmut breit. «Ich habe eine riesengrosse Wut im Bauch! Wie lange noch werden kleine Kinder und Frauen sexuell misshandelt, vergewaltigt und geschlagen?», kommentierte eine Leserbriefschreiberin das Urteil des Bezirksgerichts Horgen ZH. Die dortigen Richter hatten das Verschulden eines Primarlehrers zwar für schwer befunden – er hatte zwölf Schülerinnen im Alter von neun bis dreizehn Jahren missbraucht -, die unbedingte Gefängnisstrafe von zwei Jahren aber zugunsten einer Therapie aufgehoben.

Kindsmissbrauch bewegt die Bevölkerung wie kaum ein anderes Verbrechen. Auf dem Internetportal yousay.ch etwa äussert sich der ungeschminkte Volkszorn. Die Kastrierung von Tätern wird gefordert, die Einführung der Todesstrafe – wobei die Hinrichtungen nach den Vorstellungen von Benutzer «TX 1000» öffentlich sein sollten. «Papa Hegel» wiederum möchte Kinderschänder mittels Tätowierung auf der Stirn brandmarken.

«Pädophilie entspricht nicht der gesellschaftlichen Norm. Der primäre Wunsch, Sex mit Kindern zu haben, ist immer abgelehnt worden», sagt Frank Urbaniok, Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes beim Justizvollzug des Kantons Zürich. Unschuld und Wehrlosigkeit der Kinder wecken Beschützerinstinkte. Umso grösser ist die Welle der Empörung, wenn diesen Instinkten zuwidergehandelt wird. Zusätzlich angeheizt wird die Stimmung durch die Verbreitung von Zahlen zum Ausmass, denen mitunter Plausibilität oder Seriosität fehlt (siehe Nebenartikel «Sexueller Missbrauch: Eine Frage der Definition»).

«Möchte es gern mit dir treiben»

Es ist eine Ironie der modernen Technik, dass ausgerechnet das Internet, in dem Wutentbrannte gegen Kindsmissbrauch mobil machen, zum bevorzugten Tummelplatz von Pädophilen geworden ist. Danièle Bersier, Sprecherin des Bundesamts für Polizei, spricht von einer «Besorgnis erregenden Tendenz». Immer mehr pädophil veranlagte Menschen würden versuchen, via Internet-Chats Kinder zu treffen. «Das Angebot an kinderpornografischen Inhalten im Internet ist hoch und leicht verfügbar. Das ist gefährlich, denn Personen können dadurch auf den Geschmack kommen und an eine Tathandlung herangeführt werden», sagt Frank Urbaniok. Unverblümt kommen die Täter in den Chats zur Sache: «Möchte es gern mit dir treiben», schrieb etwa der Pädokriminelle «Eduard» an «Marco», der sein Alter mit 14 angegeben hatte. Doch «Marco» war ein verdeckter Ermittler, und «Eduard» wurde wegen versuchter sexueller Handlungen mit Kindern zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt – bedingt.

Den bedingten Vollzug gesteht das schweizerische Strafrecht Ersttätern mit einer Strafe unter 18 Monaten zu, sofern ihnen eine gute Prognose gestellt wird. Dies mag ein Grund sein für die in der Bevölkerung vorherrschende Meinung, dass die Täter zu milde bestraft werden. Kommt hinzu: Viele der Taten sind zum Zeitpunkt ihrer Beurteilung bereits verjährt. Bei sexuellen Gewalttaten an Kindern unter zehn Jahren kann der Täter nach heutiger Gesetzgebung ab dem vollendeten 25. Altersjahr des Opfers strafrechtlich nicht mehr belangt werden. Missbrauch an älteren Kindern verjährt generell nach 15 Jahren.

«Diese Regelung schützt die Täter und nimmt auf die Situation der Opfer keine Rücksicht», ärgert sich Ruth Ziltener, Vizepräsidentin der Kinderschutzorganisation Marche Blanche. Sexueller Missbrauch finde meist innerhalb der Familie oder im Beziehungsumfeld statt, so Ziltener. Die Betroffenen würden das Geschehene deshalb oft während Jahren, mitunter gar Jahrzehnten mit sich tragen, ehe sie sich überhaupt jemandem anvertrauen könnten (siehe Artikel zum Thema «Opfer: ‹Ich konnte mit niemandem reden›»). Der Schritt, den Peiniger anzuzeigen, brauche dann nochmals seine Zeit – doch diese sei nicht vorhanden. «Wegen der kurzen Verjährungsfrist kommen viele Täter ungeschoren davon», kritisiert Ziltener. «Das ist ein Hohn für die Opfer, die ein Leben lang leiden.»

Dem will Marche Blanche mit einer radikalen Forderung den Riegel schieben: Pädokriminelle Straftaten sollen in der Schweiz künftig unverjährbar sein, so verlangt es eine im März eingereichte Initiative. Das trifft den Puls des Volkes. Obwohl die 2001 in Genf von besorgten Eltern gegründete Bürgerbewegung bislang praktisch nur in der Romandie bekannt ist, kamen für das Begehren problemlos 116000 Unterschriften zusammen. «So einfach haben sich die Leute noch nie von einem politischen Vorstoss überzeugen lassen», sagt Vizepräsidentin Ziltener, die als CVP-Lokalpolitikerin im Kanton St. Gallen häufig Unterschriften sammelt.

Zur Abstimmung gelangt die eidgenössische Volksinitiative «für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» frühestens in zwei, eher erst in vier Jahren. Doch schon heute ist absehbar, dass sie eine emotionale Diskussion auslösen wird, in der das Vergeltungsbedürfnis im Vordergrund steht. Ruth Ziltener betont deshalb: «Die Bestrafung der Täter ist nicht unser Hauptanliegen.» Vielmehr gehe es den Initianten darum, dass sich die Opfer zu Wort melden und Anzeige erstatten könnten, wenn sie dazu bereit seien – ohne Zeitdruck durch das Gesetz. «Das ist eine Frage der Gerechtigkeit», sagt die vierfache Mutter.

Genug vom «Kuschelkurs»

Bei Marche Blanche, gebildet aus lauter Freiwilligen, stellt man sich auf einen einsamen Kampf ein. Ausser Sympathiebekundungen durch einzelne Exponenten steht die offizielle Politik weitgehend abseits. «Dafür haben wir das Volk im Rücken», gibt sich Ruth Ziltener gelassen. Sie beruft sich dabei auf die im Februar 2004 an der Urne gutgeheissene Verwahrungsinitiative, die die lebenslange Wegsperrung von besonders gefährlichen Straftätern anstrebt. Die Parallelen sind in der Tat frappant: Die Verwahrungsinitiative wurde ebenfalls von privaten Initiantinnen – gemieden von Parteien, belächelt von Fachleuten – im Alleingang zum Erfolg geführt, genährt von der Stimmung in der Bevölkerung, die den vermeintlichen Kuschelkurs satt hat. Und auch jetzt wird die Lösung des Problems in einer Verschärfung des Strafrechts gesehen. Wie sehr das aktuelle Unverjährbarkeitsbegehren von diesem Geist geprägt ist, zeigt eine «mathematische Logik» im Argumentarium von Marche Blanche: Je mehr Täter bis an ihr Lebensende verfolgt werden könnten, so die Gründerin Christine Bussat, umso weniger Opfer gebe es.

Derart einfache Rezepte rufen Kritiker auf den Plan. Juristen anerkennen zwar den Wunsch nach einem besseren Schutz der Kinder, doch erachten sie die Initiative als untaugliches Mittel dafür. Bereits schon die Formulierung des Volksbegehrens wird bemängelt: «Die Verfolgung sexueller oder pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät und die Strafe für solche Taten sind unverjährbar.» «Pubertät» jedoch, moniert unter anderem der Zürcher Strafrechtsprofessor Christian Schwarzenegger, sei juristisch kein trennscharfer Begriff. Zudem würden zwei Straftatbestände in unzulässiger Weise vermischt: sexuelle Handlungen mit Kindern und Kinderpornografie. «Die Bestimmungen im Strafgesetzbuch zur Pornografie sollen die Gesellschaft schützen, jene zu sexuellen Handlungen mit Kindern aber die Kinder selbst», so Schwarzenegger.

Die Annahme der Initiative hätte für das schweizerische Strafrecht weitreichende Folgen – viel weitreichendere, als die Verwahrungsinitiative haben wird. «Erhält das Volksbegehren an der Urne eine Mehrheit, gerät die Verjährung generell für alle Straftaten unter Druck», sagt der Lausanner Kriminologe Martin Killias. Sein Argument: Schwerstverbrechen wie Mord würden verjähren, sexuelle Handlungen mit Kindern aber nicht. Das wäre laut Killias höchst stossend. «In einem solchen Strafgesetzbuch würden die Proportionen überhaupt nicht mehr stimmen», findet auch Christian Schwarzenegger. Ausserdem schwinden die Aufklärungschancen, je weiter ein Verbrechen zurückliegt. Schwieriger wird gleichzeitig aber auch der Nachweis von entlastenden Tatsachen. «Die Aufhebung der Verjährung wird eine Welle von Fehlurteilen auslösen», prophezeit Killias.

Täter werden meist nicht angezeigt

Vom Beweisnotstand bei weit zurückliegenden Straftaten tangiert ist allerdings nicht nur die Rechtsprechung. Andrea Burgener Woeffray, Präsidentin von Kinderschutz Schweiz, verweist auf mögliche Auswirkungen für die Opfer der sexuellen Ausbeutung. «Wenn ein Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt werden muss, erlebt das Opfer erneut das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem Täter – es steht ein zweites Mal als Opfer da», sagt sie. Aus Gründen der Verhältnismässigkeit geht dem Kinderschutz der Wegfall der Verjährungsfrist zu weit – eine Verlängerung der Fristen «muss aber diskutiert werden». Andrea Burgener Woeffray regt die Einsetzung einer Expertengruppe an, die neben den rechtlichen Aspekten auch Fragen der Begleitung und der Therapie im Einzelfall einschliesst. Denn: «Die Verarbeitung von sexueller Ausbeutung ist wohl das Individuellste, das es gibt.»

Das weiss niemand besser als die Verantwortlichen der Opferhilfestellen. Sogar dort wird die Marche-Blanche-Initiative, obwohl «im Namen der Opfer» propagiert, kontrovers aufgenommen. Die Frage stellt sich: Inwieweit ist es überhaupt im Sinn von Betroffenen, dass ihre Missbrauchsgeschichte auch noch juristisch aufgearbeitet wird? «Entscheidend ist der Antrieb, der dahinter steht», sagt Regula Schwager, Psychologin bei der Zürcher Beratungsstelle Castagna. Reine Rachemotive würden kaum die erhoffte Genugtuung bringen. Wenn der Gang ins Strafverfahren Gewaltopfern hingegen helfe, aus ihrem Gefühl der Machtlosigkeit auszubrechen, sei die Anzeigeerstattung ein wichtiges Mittel. Für unabdingbar hält Schwager eine «deutliche Verlängerung» der Verjährungsfrist, die überdies erst ab der Volljährigkeit der Opfer beginnen dürfe. «Das wäre ein Schritt von der Täter- zur Opferorientierung. Da herrscht bei uns ein enormer Handlungsbedarf.»

Die Erfahrung der Beratungsstellen zeigt, dass innerhalb der gesetzten Fristen nur eine Minderheit von Personen, die in ihrer Kindheit ausgebeutet wurden, gegen ihren damaligen Peiniger eine Strafverfolgung auslöst: Angst, Abhängigkeiten und unvollendete Verarbeitungsprozesse fallen oft zu stark ins Gewicht. «In den mir bekannten Fällen erstattet vielleicht jedes zehnte Opfer Anzeige», schätzt Verena Müller vom Selbsthilfeverein gegen sexuellen Missbrauch (GSM). Dem Verein ist es ein Anliegen, aus der Sicht von Betroffenen die versteckten Folgen von pädosexueller Gewalt zu thematisieren.

Dass den Tätern weniger Schlupflöcher geboten werden, um ihrer «gerechten Strafe» zu entgehen, ist für Verena Müller ein vordringliches Ziel. Und Teil des Heilungsprozesses für die Opfer, wie in einem Lied zum Ausdruck kommt, das ein Vereinsmitglied aus eigener Betroffenheit komponiert hat: «Vergangnes ist gut verdaut / aus meiner Mitte bricht Licht / Liebe dringt unter meine Haut / Täter vor nem Gericht.»

Quelle:

http://www.beobachter.ch/justiz-behoerde/artikel/kindsmissbrauch_die-grosse-wut-des-volkes/