Berliner Morgenpost
Redaktion

Leserbrief zu zwei Artikeln der Ausgabe vom 28.1.2010
„Canisiuskolleg: Missbrauchsfälle an Berliner Eliteschule“ (Titelseite)
„Das Schweigen muss gebrochen werden“ (Seite 13)

Sehr geehrte Redaktion,
Sehr geehrter Herr Anker, Sehr geehrter Herr Behrendt,

Herr Pater Mertens hat mit seiner Entscheidung ein hohes Maß an Zivilcourage bewiesen und seinen reflektierten Äußerungen ist zu entnehmen, dass er die von sexuellen Übergriffen betroffenen ehemaligen Schüler ernst nimmt und sie unterstützen möchte.

Den Betroffenen kann ich allerdings nur dringend raten, sich zusammenzutun und alle weiteren Schritte abzusprechen. Zum einen, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu motivieren, zum anderen, um sich davor zu schützen nach der Schadensbegrenzung von der Institution „Katholische Kirche“ fallen gelassen zu werden.
Viele ähnliche Fälle in Deutschland, Irland, Asien, Kanada, den USA, Lateinamerika und Afrika zeigen, dass es der katholischen Kirche vor allem darum geht, die Stützpfeiler ihrer Macht aufrechtzuerhalten: das hierarchische Gefälle zwischen den Geschlechtern, den Generationen und Laien und Geistlichen.

Juristische Schritte können fatalerweise in Fällen wie diesem nicht mehr unternommen werden. Selbst bei schwerem sexuellem Missbrauch ist die Tat 20 Jahre nach Erreichen der Volljährigkeit verjährt, in weniger schweren Fällen sogar schon nach 10 Jahren.
Da viele Betroffene erst als längst erwachsene Menschen den Mut und die Gelegenheit finden, sich dazu zu bekennen, „Opfer“ gewesen zu sein und oftmals ihr ganzes Leben schwer beeinträchtigt sind, stellt diese Verjährung ein großes Unrecht dar.
Sie ist ein Hauptgrund dafür, dass Täter in unserer Gesellschaft oftmals ungeschoren davon kommen und weiter sexuelle Verbrechen begehen.
Momentan werden gerade Unterschriften für eine Petition an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gesammelt (norbert.denef.com/petition).
Deshalb ist es umso tragischer und zugleich bezeichnend, dass den betroffenen Schülern nicht schon damals geholfen wurde.

Da aber im Durchschnitt 5 – 20 Prozent aller Kinder sexuellen Misshandlungen ausgesetzt sind (je nach Definition) wird es am Canisius-Kolleg, wie an allen anderen Schulen auch, in jeder Schulklasse mindestens ein betroffenes Kind geben.
Insofern lohnt es sich für die Schule sowieso, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Die Erschütterung des Schulleiters legt nahe, dass ihm das wohl nicht so präsent ist, wie es sein sollte. Aber damit geht er konform mit der Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft.
Es ist unter anderem die Kultur der Scham und des Verdrängens die Taten wie diese möglich machen.

Ich hoffe, dass die Opfer und ihre Angehörigen sich kompetente Unterstützung holen und sie bekommen.

Berlin, d. 29.1.2010

Angelika Oetken
Parrisiusstraße 23
12555 Berlin