Der in Delitzsch sexuell missbrauchte Norbert Denef über das Leben seit der Offenbarung und dem Bieniek Interview

Delitzsch.
 Die aktuellen Nachrichten aus Berlin, Bonn und anderen Orten in Deutschland erinnern an das was vor rund 50 Jahren in Delitzsch geschah. Derzeit schockieren Jesuiten Patres die Öffentlichkeit, die an Gymnasien des katholischen Ordens junge Leute unterrichteten und dabei eindeutig zu weit gingen. Sie missbrauchten ihre Schüler und brachen deren Seelen und das Gesetz. In der Loberstadt vergriff sich einst der von vielen in der katholischen Pfarrgemeinde St. Marien verehrte Alfons Kamphusmann an etlichen Schutzbefohlenen. Zu denen die unter der sexuellen Gewalt des Priesters litten und noch immer leiden gehört Norbert Denef. Aus seiner früheren Heimat erfuhr der heute 60 Jährige unlängst Rückendeckung aus prominentem Munde (wir berichteten). Über den Beistand von Delitzsch Exoberbürgermeister Heinz Bieniek und das weiterhin schwierige Unterfangen als Betroffener die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, äußerte sich Denef im folgenden Interview der Woche.

Sie haben vor etwas mehr als vier Jahren mit dem Bekanntmachen Ihrer Geschichte ein deutschlandweites Medieninteresse hervorgerufen, später in einem Buch geschildert, wie das ist, wenn den erwachsenen Menschen der sexuelle Missbrauch, den er als Minderjähriger erlitten hat, auf brutale Weise einholt. 35 Jahre nach den Taten haben Sie das allgemeine Schweigen nicht mehr aushalten können und sich offenbart. Im Rückblick auf die Zeit seit dem Jahreswechsel 2005/2006: Wie geht es Ihnen heute – besser oder schlechter als damals?

Ich denke nach wie vor jeden Tag darüber nach: „Springe ich oder springe ich nicht.“ Denn die Mauer des Schweigens und die Ausgrenzung zu ertragen, gleicht einer Hinrichtung auf Raten.
35 Jahre habe ich geschwiegen. Diese Zeit vergleiche ich gern mit Einzelhaft, wo die Mauern um einen herum so dick sind, die es verhindern dem Leid Worte zu geben. Da ich als Jugendlicher sechs Wochen lang in Einzelhaft verbringen musste, weiß ich wovon ich rede. Es waren zwar „nur“ sechs Wochen, dennoch haben sie mein Leben verändert. Im Roten Ochsen in Halle/S habe ich vor einiger Zeit das Kapitel „Einzelhaft“ vorgelesen.
Als ich es 1993 endlich wagte, meine 35 jährige Schweigemauer im Familienkreis und im Beisein der beiden Täter zu brechen, wurde nicht nur ich, sondern auch meine Frau und meine beiden Kinder von meiner Herkunftsfamilie als „Nestbeschmutzer“ ausgegrenzt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Zwei Tage nach dem meine Geschichte im Dezember 2005 im SPIEGEL erschien, wurde meine Frau auf Ihrer Arbeitsstelle gemobbt. Ein Jahr lang hat sie das ertragen, danach wurde sie arbeitsunfähig. Ihr Arbeitgeber war die katholische Kirche.

Sie haben den mutigen Schritt über ihr Schicksal öffentlich zu sprechen seiner Zeit allein getan. Immer noch Don Quichotte oder spüren Sie inzwischen so etwas wie Rückenhalt?

Viele unterstützen mich in meiner Arbeit. In der Zwischenzeit habe ich durch meine Öffentlichkeitsarbeit sehr viele Kontakte und erfahre dadurch Unterstützung im Kampf gegen das Verschweigen sexualisierter Verbrechen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Diese Menschen geben mir die Kraft nicht aufzugeben. Ich bin kein „Einzelkämpfer“ mehr.

Ihre Hoffnung, die katholische Gemeinde in Delitzsch werde sich gemeinsam mit Ihnen auf den Weg der Aufarbeitung begeben, hat sich schnell zerschlagen. Wie verhält sich die Amtskirche, seit das Bistum Magdeburg – wie Sie sagen – 25 000 Euro Schweigegeld gezahlt hat?

Gleichwohl Zeitzeugen bestätigen, dass das was ich in meinem Buch geschrieben habe nicht gelogen sei, bestreitet die Amtskirche nach wie vor, Pfarrer Alfons Kamphusmann immer wieder straf versetzt zu haben, wenn seine „Neigungen“ in der jeweiligen Gemeinde bekannt wurden. Der damaligen Amtskirche war es offensichtlich egal, ob Kindern und Jugendlichen Schaden zugefügt wurde. Das Ansehen der Kirche war ihnen wichtiger. Es wird Zeit, dass nicht nur in Irland Bischöfe zurücktreten, sondern auch in Deutschland. Es wird Zeit, dass ein Bischof, der ein Opfer zum Schweigen zwingt, Verantwortung übernimmt, seinen Hut nimmt und geht.

Nach der rigorosen Abweisung durch den Kirchenvorstand im Jahr 2006 war das Thema Norbert Denef für die Mariengemeinde vom Tisch. Vor wenigen Tagen hat ein Mitglied der Gemeinde, der frühere Delitzscher Oberbürgermeister Heinz Bieniek, in einem Kreiszeitungsinterview geäußert, dass die „gewissen Neigungen“ des Vikars Alfons Kamphusmann im Prinzip allen bekannt waren, die in den Sechzigerjahren aktiv am Gemeindeleben teilnahmen. Sie hätten hier und da vielleicht ein wenig übertrieben, aber gelogen hätten Sie nicht. Wie kommen solche Sätze bei Ihnen an?

Gemeinsam mit Heinz verbrachte ich meine Kindheit und teilweise auch meine Jugend in Delitzsch. Er bestätigt in dem Interview, dass die katholische Kirche die Verbrechen von Pfarrer Alfons Kamphusmann verschwiegen, verleugnet und vertuscht hat, so wie ich es in meinem Buch geschrieben habe. Ihn ebenfalls der Lüge zu bezichtigen und auszugrenzen, so wie ich es bisher erfahren musste/muss, wäre eine Möglichkeit. Handeln, etwas an der eigenen Einstellung und am Verhalten verändern, sich eindeutig auf die Seite der Opfer stellen, wäre die andere Möglichkeit. Dazu benötigt man Zivilcourage. Heinz Bieniek hat sie aufgebracht, wenn auch sehr spät.

Empfinden Sie Genugtuung?

Unter Genugtuung verstehe ich ein Gefühl der vollständigen Zufriedenheit, mit den gegebenen Verhältnissen, Leistungen einverstanden zu sein, nichts auszusetzen zu haben. Dass Heinz Bieniek als Zeitzeuge auftritt und bestätigt, was ich seit vielen Jahren öffentlich sage, erkenne ich hoch an. So lange die Schäden der Opfer nicht anerkannt und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, gibt es keine Genugtuung.

Was kann aus den Äußerungen von Heinz Bieniek erwachsen?

Vielleicht finden dadurch mehr Menschen den Mut, Ihr Schweigen zu brechen.

Sie stehen seit Ihrem Outing im Kontakt zu weiteren Opfern aus Delitzsch. Wie gehen die mit dem Trauma um?

Der Umgang mit dem Trauma ist immer unterschiedlich. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, sondern jeder hat seinen eigenen, den es gilt zu achten. Viele Opfer schweigen, ein Leben lang. Sie schaffen es nicht, diesen Teufelskreis Opfer-Täter-Opfer-Täter zu zerbrechen.

Deutsche Bistümer installieren inzwischen Beauftragte und Kommissionen zur Prüfung von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche. Was denken Sie darüber?

Stellen Sie sich bitte vor, die Mafia würde, um ihre Kriminalität zu bekämpfen, Beauftragte und Kommissionen zur Prüfung von Vorwürfen ihrer kriminellen Machenschaften installieren. Da würde sich doch jeder normal denkende Mensch an den Kopf greifen und sich fragen, was soll das. Diese Einrichtungen sind aus meiner Sicht eine Verhöhnung der Opfer.

Delitzsch ist überall und sexuell missbraucht wird nicht nur in Kirchenkreisen. Sie kämpfen inzwischen dagegen an, dass der Deutsche Bundestag Ihre Petition, die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch im Zivilrecht aufzuheben, abgelehnt hat, scharen im Internet Sympathisanten um sich, wollen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einschalten. Wie realistisch ist es darauf zu hoffen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder in unserer Gesellschaft nicht immer nur dann zum Thema wird, wenn wieder ein besonders trauriger Fall bekannt geworden ist?

Nicht nur meine Herkunftsfamilie, die Kirchengemeinde, der Bischof und der Papst wollen, dass ich wieder schweige, sondern auch der Gesetzgeber. Er schützt mit der Verjährungsfrist sexueller Gewaltverbrechen die Täter, in dem er die Opfer zum Schweigen zwingt.
Damit sich daran etwas ändert und die Täter lebenslänglich zur Rechenschaft gezogen werden können, habe ich eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof gegen die Ablehnung meiner Petition ‘Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch im Zivilrecht aufheben’ durch den Deutschen Bundestag eingereicht. Die Beschwerde kann von meiner Homepage herunter geladen werden. Mir geht es nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit. Hierbei nehme ich Bezug auf das Bundesgesetzbuch: „Wer einen anderen durch Hinterlist, Drohung oder Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen bestimmt, ist ihm zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“ (BGB § 825 Bestimmung zu sexuellen Handlungen).
Jeder einzelne ist hier gefragt mitzumachen, sich für Menschenrechte der Opfer einzusetzen. Eben nicht mehr schweigen und verdrängen, sondern Farbe bekennen wenn es darum geht, dass wieder einmal ein Opfer ausgegrenzt wird. Einfach den Mund auf machen, so wie Heinz Bieniek das gemacht hat. Dadurch wird es für die Opfer erträglicher. Sie müssen sich dann nicht mehr schämen und Angst haben ausgegrenzt zu werden, sondern die Täter.

Sie sagen: „Ich bin nicht nur Opfer, sondern auch Täter und jeder Täter ist immer auch Opfer.“ Helfen Sie uns: Wann ist der Mensch reif für den Psychotherapeuten?

Wenn ein Mensch einen anderen Menschen verletzt, ihn erniedrigt, sollte er Hilfe in Anspruch nehmen. Das soll nicht heißen, dass ich Werbung für Psychotherapeuten machen möchte, denn ich sage ja auch an anderer Stelle: Vorsicht Therapeut! Es gibt auch hier in diesem Bereich solche und solche. Meine eigenen Erfahrungen dazu schildere ich in meinem Buch. In jedem Fall ist es wichtig, dass man anfängt danach zu fragen, warum tue ich das, warum tue ich denen am meisten weh, die ich am liebste habe. Kinder leiden unter den Folgen der nicht verarbeiteten Traumen der Erwachsenen. Sie werden geschlagen, obwohl das gesetzlich verboten ist. So lange Menschen immer noch der Meinung sind, dass ein Klaps auf den Po nicht schadet, wird sich daran nichts ändern. Erst wenn die eigenen Schläge eindeutig als gewaltvolle Erfahrungen wahrgenommen werden, wird es schwer fallen, Kindern Gewalt anzutun. Unter Gewalt verstehe ich nicht nur körperliche, sondern auch die unsichtbare, psychische Gewalt. Jemanden ausgrenzen z.B. ist psychische Gewalt.

Sie haben das Bundesland, in dem Alfons Kamphusmann zuletzt lebte und in dem der andere Peiniger noch lebt, inzwischen verlassen, leben nunmehr an der Ostsee. Warum?

Als achtjähriger schaute ich von einer 50 Meter hohen Steilküste, ganz allein, zum ersten Mal auf das Meer. Mein Leben war nicht mehr das, was es bis dahin war, ich verspürte eine unglaubliche Kraft. Diese Kraft hat mich durch mein Leben getragen. Nach 50 Jahren wollte ich wissen, ob die Kraft des Meeres mich wirklich all die Jahre getragen hat, oder ob ich mir das alles nur einbilde. Ich bin den Weg von damals noch einmal gegangen, meine Tochter hat mich dabei begleitet. Ich stand auf der Steilküste und schaute auf das weite Meer und hatte das Gefühl, dass ich angekommen bin. Ich hielt den 8-jährigen Norbert fest an der Hand und genoss mit ihm gemeinsam das endlos weite Meer.
Die Weite des Meeres ist für mich die beste Therapie. Hier kann ich mich fühlen, was ich mehr als 50 Jahre lang nicht konnte. Und ich kann auch weinen wenn mir danach ist. Wenn Sturm ist, den ich am meisten Liebe, kann ich alles aus mir herausschreien. Und im Moment genieße ich die Ruhe, weil die Ostsee zugefroren ist, so weit das Auge reicht. Die Ostsee ist meine beste Psychotherapeutin.

Wann kommen Sie mal wieder nach Delitzsch?

Wenn ich keine Angst mehr haben muss, als Nestbeschmutzer behandelt zu werden.

Glauben Sie an Gott?

Hin und wieder denke ich darüber nach, ob ich glaube oder nicht. Und dann komme ich drauf, dass ich gar nichts glaube und gar nichts weiß. Ich glaube, wenn es ihn wirklich gibt, dass er nicht will, dass irgend so ein kleines Licht an seiner Stelle spricht. Ich glaube, wenn es ihn wirklich gibt, dass er bestimmt nicht in den Kirchen thront.

Gehören Sie der katholischen Kirche noch an?

Nein.

Quelle:

Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch/Eilenburg 6.02.2010