Von Barbara Hans

Er musste sich nackt auf ein Sofa legen, und was dann kam, hat seine Seele zerstört: Norbert Denef wurde als Kind jahrelang von einem katholischen Pfarrer missbraucht. Als erstes deutsches Opfer bekam er finanzielle Entschädigung – doch sein Kampf gegen die Kirche ist noch nicht zu Ende.

Hamburg – Es ist dieses eine Bild, diese eine kleine Geste, die sich eingebrannt hat in Norbert Denefs Kopf. Eine Geste, die ein Symbol ist für das, was ihm jahrelang widerfahren ist. Es ist das Bild eines Jungen, der seinen Finger in ein Astloch bohrt, wieder und wieder. So lange und so oft, bis das Astloch irgendwann ausgefranst ist und sein Finger problemlos hineinpasst. Während er dem Astloch an der Seitenwand eines ausladenden Schreibtischs seine ganze Aufmerksamkeit widmet, liegt der Junge nackt auf der Couch.

Es ist die Couch eines Geistlichen.

Jahrelang vergeht sich Pfarrer Alfons Kamphusmann an Norbert Denef, meist auf seinem Sofa, mehrmals in der Woche.

Der Missbrauch geschieht in den Jahren 1960 bis 1966, Denef ist damals zwischen zehn und 16 Jahren alt. Es ist die Zeit, von der er heute sagt, sie habe seine Seele getötet. Nachdem der Pfarrer von ihm ablässt, wird Denef Opfer eines zweiten Kirchenmannes, eines Angestellten, der ihn drei weitere Jahre lang missbraucht.

Es folgen Jahrzehnte des Schweigens. Die Erinnerung an die Vergangenheit verschlägt ihm die Sprache. Ein Jahr lang probt er vor dem Spiegel, um die entscheidenden vier Worte zu sagen: „Ich wurde sexuell missbraucht.“
Er sagt den Satz erst bei einem Familienfest 1993, und die Familie ist empört. Nicht über Pfarrer Kamphusmann, der als Freund der Familie bei den Denefs ein- und ausging. Sondern über Norbert, der es wagte, von Missbrauch zu sprechen. Der Kontakt bricht ab, Denef ist ein Ausgegrenzter.

Die Rechnung: Was hätte er in derselben Zeit auf dem Strich verdient?

Seither ist sein Leben ein Kampf, geführt von seiner Wohnung aus und über die Medien.
Denef kämpft gegen das Verdrängen und eine Kirche, die auf Zeit spielt und bemüht ist, unter den Teppich zu kehren, was nicht sein darf – aber was, wie die aktuelle Debatte über Missbrauchsfälle zeigt, doch viel zu oft passiert.

„Der Gegner ist mir aufgezwungen worden, den habe ich mir nicht ausgesucht“, sagt Denef. Er kämpft auch mit sich selbst, er ringt mit dem Erlebten, mit Schweißausbrüchen und Angstattacken, die ihn noch immer einholen. Mit dem Bedürfnis, nur in kochendheißem Wasser baden zu wollen, um sich selbst zu spüren. Mit der Erfahrung, die eigenen Kinder geschlagen zu haben, weil erlebte Gewalt weitere Gewalt erzeugt.

Denef hat sich seiner Vergangenheit in zig Therapien gestellt. Wer mit ihm spricht, merkt das. Denef weiß, was in jener Zeit mit ihm geschehen ist, als er das Erlebte von sich abgespalten hat, um es ertragen zu können. Er weiß, dass er erstarrte, um überleben zu können.

Doch sein Kampf hatte Erfolg: Der heute 60-Jährige hat geschafft, was bislang keinem anderen Opfer sexuellen Missbrauchs durch Kirchenmänner in Deutschland gelang. Nach jahrelangen Verhandlungen zahlte das Bistum Magdeburg ihm Schmerzensgeld. Denef konnte den Missbrauch beweisen. Die beiden Kirchenmänner hatten gestanden, schriftlich.

Doch wie viel Geld ist Leiden wert?

Wie bemisst man all die Nachmittage auf der Couch des Pfarrers in Geld? Wie vergütet man das Leid eines Lebens, in dem kein Tag vergeht, an dem die Vergangenheit nicht präsent ist, aus dunklen Winkeln nach der Gegenwart greift? In dem Ehefrau und Kinder leiden mussten, weil Denef unter seiner Vergangenheit litt?

Für Norbert Denef war es eine schlüssige Rechnung: Er überlegte sich, was er verdient hätte, wäre er in den Jahren des Missbrauchs auf den Strich gegangen statt zwangsweise in das Bett des Pfarrers. Er addierte Therapiekosten für sich und seine Familie – und kam auf 450.000 Euro. Das Bistum Magdeburg kam auf 25.000 Euro.

Dem Bescheid über das Geld lag eine Erklärung bei, er solle sich verpflichten, nicht öffentlich über das Geschehene zu sprechen. Die Kirche wollte Denef kein Schmerzengeld zahlen, sondern Schweigegeld. Gegen diese Schweigeklausel hat er zwei Jahre lang gekämpft. Am Ende wurde sie gestrichen. Das Geld hat er genommen und will damit eine Stiftung gründen, die sich gegen das „Verschweigen, Verleugnen und Vertuschen sexualisierter Gewalt“ einsetzt.

„Das Opfer hat es doch gewollt“

„Durch das Geld wird ein Schaden nicht geringer, aber für das Opfer ist es eine Form der Anerkennung“, sagt Denef. Seither führt Denef einen weiteren Kampf – gegen das deutsche Zivilrecht. Denn das regelt, dass der Anspruch auf Schadensersatz bereits drei Jahre nach dem 21. Geburtstag verfällt. Strafrechtlich sind solche Fristen in der Regel nach zehn Jahren verjährt, gezählt wird ab der Volljährigkeit des Opfers.

Wenn sich ein Opfer also nicht mit spätestens 27 Jahren an die Behörden gewandt hat, kommt der Täter ungestraft davon. Doch vielen geht es wie Norbert Denef, sie brechen aus Scham und Angst erst Jahrzehnte nach der Tat ihr Schweigen. Zu spät, um das Vergehen strafrechtlich zu ahnden, zu spät, um Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Verjährungsfristen zählen somit zu den wichtigsten Problemen für Missbrauchsopfer. „Der Tote hat die besten Chancen auf Schadensersatz“, kommentiert Denef verbittert.

Er will, dass die Verjährungsfrist im Zivilrecht aufgehoben wird. So sollen die Opfer wenigstens einen finanziellen Ausgleich erhalten. Der Gesetzgeber mache sich „mitschuldig an dem leidvollen Schweigen der Opfer“, weil er „eine Aufarbeitung der Verbrechen behindere“, schrieb Denef in seiner Petition an den Deutschen Bundestag.

Der lehnte sie ab. Jetzt sammelt Denef Unterschriften für eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Mehr als 7000 hat er bereits zusammen. Doch es müssen noch mehr werden, um die Politik zum Einlenken zu bewegen.

Die Anklage: Seelenmord

„Du hast dich schon mit dem mächtigsten Haufen der Welt angelegt, der Kirche, da brauchst du jetzt nicht auch noch die Politik“, habe er anfänglich gedacht, sagt Denef. Doch seine Tochter sei es gewesen, die in animiert habe, weiterzumachen, sein Anliegen auch in die Politik zu tragen.

Denef sagt, ihm gehe es um eine Änderung des Zivilrechts, weil dieses sich um die Opfer bemühe – anders als das Strafrecht, das vorrangig den Täter im Blick habe. „Die Gesetze sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Und sie folgen immer noch der Verführungstheorie. Nach dem Motto: Das Opfer hat es doch gewollt.“

Das Opfer hat in einem zivilrechtlichen Verfahren die Beweispflicht. Ihr nachkommen zu können wird schwieriger, je länger die Tat zurückliegt. Es ist jedoch, wie der Fall von Norbert Denef zeigt, nicht unmöglich.

Doch genau darauf hat sich der Deutsche Bundestag berufen, als er Denefs Petition im Dezember 2008 ablehnte: „Verjährungsregelungen sind zur Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit unabdingbar“, heißt es in der Begründung. Und weiter: „Der Rechtsverkehr benötigt klare Verhältnisse und soll deshalb vor einer Verdunkelung der Rechtslage bewahrt werden, wie sie bei später Geltendmachung von Rechtsansprüchen auf Grund längst vergangener Tatsachen zu befürchten wäre.“

„Wir haben ein Täterschutz- und kein Opferschutzgesetz“, resümiert Denef bitter. Er selbst habe „35 Jahre dafür gekämpft“, das ihm widerfahrene Unrecht auszusprechen. „Die gesetzlichen Regelungen müssen zum Ausdruck bringen, dass wir als Gesellschaft den Seelenmord anklagen.“

Bei „richtigem“ Mord diskutiere man ja auch nicht „so blödsinnig“.

Quelle:

http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,677496,00.html