FR-online.de 18.02.2010

Opernregisseur Calixto Bieitos

Erinnerungen an sexuellen Missbrauch

Von Calixto Bieito

Das Jesuiten-Kolleg von Miranda de Ebro (Burgos) in den siebziger Jahren. Ich war 10 oder 11 Jahre alt. Unser Seelsorger war wegen seiner Güte und der Zuneigung, die er uns entgegenbrachte, sehr beliebt unter uns Jungs. Er benahm sich sehr gut uns gegenüber, verglichen mit der Härte und eisernen Disziplin, die die anderen Geistlichen des Kollegs einforderten. Er trug auch keine Soutane und keinerlei kirchliche Abzeichen. Weder schlug er uns noch erniedrigte er uns in irgendeiner Weise: ein moderner Priester, der uns nahe war und dem wir Vertrauen entgegenbrachten.

In regelmäßigen Abständen rief er seine Zöglinge in sein Amtszimmer, um mit uns über eventuelle Probleme oder andere Vorfälle zu sprechen. Er interessierte sich auch für unsere Bekenntnisse, wenn wir sie ihm anvertrauen wollten. Es gefiel uns, wenn er uns in sein Büro zitierte, und wir vertrauten ihm manches an. Immer hatte er freundliche Worte, setzte sich für uns ein, und manchmal machte er uns kleine Geschenke. Er war der Seelsorger des Kollegs, der von allen bevorzugt wurde.

Eines Tages ließ er mich rufen. Gerade war die Pause zuende, und ich rannte zu seinem Zimmer. Auf dem Pausenhof war ich ebenfalls schon gerannt, und jetzt schwitzte ich. Überhaupt machte es mir damals große Freude zu rennen. So trat ich in seine Stube, und er schloss die Tür. Im Unterschied zu den anderen Besuchen, die ich bei ihm gemacht hatte, verriegelte er aber jetzt die Tür. Es war ein kleiner Riegel, am oberen Teil angebracht. Er betrachtete mich und fragte, was ich im Hof getan hätte. Ich erinnere mich nicht, ob ich ihm etwas antwortete. Er sagte, dass ich ja das Hemd außerhalb der Hose trüge und dass er jetzt zu mir kommen würde, um mir es mir wieder richtig anzuziehen. Er näherte sich mir. Er begann seine Hände in meine Hose zu schieben und wollte dabei mein Geschlecht berühren. Ich verstand nicht, was vor sich ging. Und es war wirklich so, als ob ich mich innerlich absonderte oder neben mich trat. Er sagte dann, dass ich mir die Kleidung selbst ordentlich richten solle, wie ich es immer gemacht hätte.

Mit Mund und Zunge

Das tat ich. Dann verlangte er, dass ich mich auf seine Knie setze. Ich tat auch das. Ich konnte nicht sprechen. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Er begann mir das Gesicht zu küssen. Erst mit seinem Mund und dann auch mit seiner Zunge. Er bedeckte mit seinen feuchten Lippen das Gesicht, den Hals und die Ohren. Er berührte meine Beine. Und er drückte mich sehr, sehr fest mit seinen Armen. Er war rot und verschwitzt und sagte, dass er für mich das Beste wolle. Ich weiß nicht wann und wie, aber mit einem Satz stand ich auf, öffnete den Riegel der Türe und begann zu laufen. Ich lief bis zu einem Waschbecken. Ich trank viel Wasser aus dem Wasserhahn. Es war sehr frisch. Einen kleinen Augenblick zögerte ich. Dann ging ich zurück in meine Klasse.

Nach einiger Zeit, ich erinnere mich nicht genau wann, erzählte uns Javier, ein Klassenkamerad, sein größtes Geheimnis: Unser Seelsorger hatte ihm 25 Peseten geschenkt. Er musste ihm dafür mit den Händen den Schwanz reiben, bis die weiße Flüssigkeit hervorkam. Javier hatte die Hände voller „Lefa“, aber unser Seelsorgerer reinigte sie sich immer mit einem Taschentuch. Danach gab er ihm das Geld. Wir mussten sehr lachen.Es gab sehr viel mehr Geschichten dieser Art an meinem Kolleg, aber sie vermischen sich in meiner Erinnerung.

Ich glaube nicht, dass diese Dinge vor allem in Jesuiten-Kollegs geschehen. Und ich glaube, dass der Missbrauch in meinem Kolleg im Zusammenhang gesehen werden muss mit einem Verhalten, das entsteht, wenn Männer einsam sind und dieser eisernen Disziplin unterworfen werden. Solche Umstände erzeugen krank machende und zerstörerische Sexualität. Es ist das Keuschheitsgebot (die Verneinung von etwas elementar Menschlichem wie der Sexualität) für die Geistlichen, das an meinem Kolleg Frustration, Traumen, Gewalt und Missbrauch erzeugt hat. Darüber hinaus muss man hinzufügen, dass die Jesuiten ein ausgeprägten Sinn haben für Gemeinschaft, Drill, Familie und Auserwähltheit haben. Das führt manchmal zu sehr unklaren Abhängigkeiten. Für mich ist sexueller Missbrauch und Erniedrigung in katholischen Kollegs ein gemeinsamer Nenner der Erziehung, wie sie in Spanien gewesen ist. Bedauerlicherweise habe ich den Verdacht, dass es sehr, sehr viele Fälle gegeben hat.

Selbstverständlich habe auch ich damals nichts gesagt

Der fragliche Seelsorger wurde niemals angeklagt oder auch nur gerügt. Ich denke, dass das gesamte Lehrerkollegium und die Geistlichen davon wussten, aber niemand reagierte. Alle Knaben an unserem Kolleg sprachen darüber, dass er sie berührte. Aber weder hat eine der Autoritäten des Kollegs uns geschützt noch den Seelsorger angezeigt. Aufgrund des starken Verbundenheitsgefühls schützen sich die Jesuiten untereinander. Heute, da ich daran denke, erscheint es mir als eine extreme Form von Grausamkeit, das mit Kindern geschehen zu lassen. Selbstverständlich habe auch ich damals nichts gesagt. Das erste Mal darüber gesprochen habe ich vielleicht zehn oder 15 Jahre später – es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern.

Glücklicherweise haben diese Erfahrungen bei mir keinen Hass oder Ähnliches hinterlassen. Meine Söhne besuchen keine religiöse Schule. Und zur Frage, ob ich diese Erfahrungen in meinen Aufführungen verarbeite: Ich war immer der Ansicht, dass die Kindheit voller Erinnerungen ist, die uns ein Leben lang begleiten und ein grundlegender Bestandteil der Persönlichkeit bleiben. So ist es auch mit der Erinnerung an diesen Seelsorger: Aber das gibt mir keine besonderen Anregungen für meine Aufführungen.

(Aus dem Spanischen von Peter Michalzik)

Quelle:

http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/themen/2322901_Erinnerungen-an-sexuellen-Missbrauch.html