derwesten.de 19.02.2010

Bonn. Zum Missbrauchsskandal am Bonner Aloisiuskolleg des Jesuitenordens meldet sich nun ein weiterer Betroffener zu Wort. In einem Leserbrief schildert Ralph Vetter aus Köln die subtile sexuelle Gewalt seiner Schulzeit, 1976 bis 1983, und wie er bis heute daran leidet.

Seine Geschichte ist dem Missbrauchsbeauftragten des Aloisiuskollegs, Robert Wittbrodt, bekannt und deckt sich mit dessen Erkenntnissen. Wir drucken Vetters Brief, gekürzt und in Auszügen:

Ich war selbst einer der Betroffenen. Die Angelegenheit war für mich seit 30 Jahren mehr oder weniger erfolgreich verdrängt, aber seit zwei Wochen erlebe ich nun einen „Flashback“ vom übelsten. Ich kann nicht mehr schlafen, habe Schweißausbrüche und lebe wieder vollständig in der Vergangenheit: Ich bin alles andere als „mediengeil“. Sie werden im Internet nicht einmal einen Eintrag über mich finden. Bevor aber der Deckel des Schweigens über alles gebreitet wird, habe ich noch einiges mitzuteilen. Auch, um endlich meine Traumata aufzubereiten.

Hier ist also meine Geschichte: Aufgrund meiner schlechten schulischen Leistungen wechselte ich mitten im Schuljahr am 2. Mai 1976 (warum merkt man sich eigentlich so ein Datum?) von einem städtischen Kölner Gymnasium als 13-Jähriger auf das Aloisiuskolleg. Es war ohnehin sehr schwer, dort aufgenommen zu werden, und so verweigerte der ehemalige Schulleiter auch meine Aufnahme. Erst der Internatsleiter Pater S. befürwortete die Aufnahme; warum er mich bei den Aufnahmegesprächen so wohlwollend und sanft angeschaut hat, wurde mir erst in späteren Jahren klar.

„Nun zieh dich mal aus.“

Es war ein Sonntag, ein Heimfahrtswochenende, als mich mein Vater dort bei Pater S. ablieferte. Nach einem Rundgang gingen wir in den Keller des dortigen Schlosses „Stella Rheni“, welches als Wohnhaus für einen Teil der jüngeren Internatsschüler genutzt wurde. Hier befanden sich die Duschen. Mit den Worten: „Nun zieh dich mal aus und geh duschen, damit du dich daran gewöhnst, wir duschen jeden Abend alle zusammen“, musste ich mich ausziehen, während mir Pater S. alleine beim Duschen zusah.

Ich musste mich also in einem Vorraum ausziehen, Pater S. stand daneben, schickte mich dann in die Dusche und beobachtete mich weiter beim Abtrocknen und wieder anziehen; dieser Vorgang ist mir noch heute lebhaft in Erinnerung. Diese Prozedur wiederholte sich dann jeden Abend zusammen mit anderen Klassenkameraden, während Pater S. unser An- und Auskleiden „beaufsichtige“.

Abends beim Zubettgehen wurde dann das sogenannte „Knechten“ durchgeführt. Streicheln am Kopf, Zwicken zwischen den Hals- und Schulterblättern, Reiben mit den Fingerknöcheln auf der Brust etcetera. Dieses wurde von uns jungen und naiven Schülern als Auszeichnung empfunden, man kümmerte sich um einen . . . Wir fanden das normal, ein Teil der Aufsichtspflicht eben. Auch das wir des öfteren nackt mit einem Wasserschlauch abgespritzt wurden, im Sommer auch nackt im Park hinter dem Schloss; ich habe noch etwas von „Abhärtung“ im Kopf.

Neidisch auf die Nakedei-Spielchen

Relativ frühzeitig wechselte ich dann aus dem Schloss in den sogenannten Neubau, einen 50er-Jahre-Komplex, in dem die meisten Internen untergebracht waren. Nur von Pater S. ausgewählte Knaben jüngeren Alters durften im Schloss wohnen. Als ich später einmal wieder im Park herumging, und die herumtollenden Kinder, teilweise eingeseift, dort beobachtete, als sie von Pater S. „abgespritzt“ wurden, war ich sogar richtig neidisch. Auch Pater Schneider war dabei, der heutige Rektor (– der am 9. Februar wegen Vorwürfen der Mitwisserschaft zurückgetreten ist, Anm.. der Red.), als junger Frater schon die rechte Hand von Pater S.

Erst später, nach der Pubertät, wurde einem klar, was da eigentlich passiert ist. In den Gängen der Mensa und des Schlosses hingen massenweise „künstlerische“ Schwarz-weiß-Fotos mit nackten Jünglingen im Sonnenuntergang, selbst fotografiert. Es galt als Auszeichnung, wenn man als einer der wenigen Schüler (seltsamerweise nur die „Hübschen“) von Pater S. in den Sommerferien im Wohnmobil zum Nacktbaden in die Einsamkeit der finnischen Seenplatte mitgenommen wurde. Die Fotos hingen noch lange Zeit und wurden erst „zufälligerweise“ etwa zeitgleich mit der Aufarbeitung der Dutroux-Verbrechen abgenommen.

Der Nachhall „subtiler Verfehlungen“

Dass es zu massiven Übergriffen gekommen ist, kann ich mir nicht vorstellen, davon ist mir auch nichts bekannt, aber die subtilen „Verfehlungen“ hallen auch heute noch nach. Was bleibt, ist die Frustration einer verlorenen Jugend; die Befürchtung nur deswegen aufgenommen worden zu sein, weil man dem „Aussehen eines Knaben der Antike“ entsprach. Noch heute leide ich unter den damaligen Ereignissen.

Ich habe es nie geschafft, mich von meinem Elternhaus zu trennen und lebe bis jetzt mit meinem Vater zusammen. Ich schlafe noch immer in dem gleichen Zimmer, in dem ich als Kind aufgewachsen bin. Ich habe auch heute mit meinen 47 Jahren nie eine Beziehung mit einer Frau gehabt und kann auch heute noch nicht mit anderen Personen in einem Raum schlafen, von einigen Ehemaligen weiß ich von ähnlichen Problemen. Am liebsten hätte ich sicher damals das Internat verlassen, aber das konnte ich meinen Eltern nicht antun, die nun so viel Geld ausgegeben hatten.

Quelle:

http://www.derwesten.de/nachrichten/im-westen/Die-verlorene-Jugend-eines-Opfers-id2611410.html

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Mehr dazu im WDR Video unter:

http://www.wdr.de/tv/aks/sendungsbeitraege/2010/kw07/0218/missbrauch.jsp