Als Zehn- oderElfjähriger wurde mein Hodenhochstand operativ korrigiert, das heißt, die Hodenwurden aus der Bauchhöhle in den Hodensack verpflanzt. Ich wurde also als vervollständigter Mann aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen in das Haus meiner Eltern, mein Vater war evangelischer Dorfpfarrer und meine Mutter die stolze Frau Pastor.

Sich tot stellen

Bei alledem lauerte im Hintergrund die verfluchte Vaterbestie und na klar hatte das perverse Dreckschwein das größte Interesse an der ordnungsgemäßen Herstellung meiner Männlichkeit, ich merke schon, wie an dieser Stelle nichtnur mir schlecht wird, und jedes mal, wenn ich zur Nachuntersuchung zum Arztmusste, kam dieses Monster natürlich mit. Derjenige, der von nichts eine Ahnunghatte, war ich. Bei einem der letzten Arztbesuche allerdings wurde mein Vatermit bestimmten Worten aus dem Untersuchungszimmer geschickt, ich bemerkte eszwar, aber erst Jahre später konnte ich das wie ein Puzzleteil einfügen in dasGesamtgeschehen, für dessen Rekonstruktion ich Jahrzehnte brauchte, weil ichdamit allein war und allein gelassen wurde. Vielleicht hatte der Arzt eineAhnung, was mit meinem Alten los war oder es war schon die Zeit, in der dieGerüchte um missbrauchte Jungs aus der Gemeinde die Runde machten und wer derTäter war. Na klar, sofort als ich dann gesund und ein Mann geworden war, kamdie Geschichte mit dem Dreckschwein in der Nacht, als ich noch nicht deneigenen Willen soweit ausgebildet hatte, um das Drecksvieh einfach zu töten,als es an mein Bett herantrat und an mir rumfummelte. Ich stellte mich tot. Inso einer Situation stellt man sich tot. Ich hielt den Atem an. Ich war gelähmt.Ich bewegte mich nicht. Ich schrie nicht und hatte nicht mal das Vertrauen,nach meiner Mutter um Hilfe zu rufen. Es war stockfinstere Nacht und icherkannte meinen Vater nicht, aber ich identifizierte ihn. Ob mein Bruder auchin der Nacht im Zimmer schlief oder ob er woanders übernachtete, weiss ichnicht mehr, auch nicht, wie ich es überlebte, was danach geschah, was amnächsten Tag, was in den folgenden Wochen. Die Welt und das Leben, das ich bisdahin gekannt hatte, existierte nicht mehr.
Was aber in den Monaten danach geschah, weiss ich noch sehr gut, weil es michzutiefst betroffen gemacht hat. Ich war immer ein guter bis sehr guter Schülergewesen, der wie von selbst lernte und sich entwickelte, plötzlich jedochsackte ich rapide ab in meinen Leistungen, kassierte Fünfen und Sechsen und dasEnde vom Lied war, ich wurde nicht versetzt in die nächste Klasse und meinenEltern wurde empfohlen, mich ab der achten Klasse auf die Realschule, dieMittelschule zu schicken, um das eingetretene Desaster einzudämmen. Na klar,ich war fertig mit der Welt, jeder kannte jeden im Schulort und drumrum undalle sahen, dass ich vom Gymnasium geflogen und in der niederen Schuleaufgeschlagen war. Na besten Dank, alte verfluchte Drecksau, das hattest duwunderbar hingekriegt, deinen Sohn zerstört, ihm das Leben genommen, ihn zueinem Idioten gemacht und missbraucht, warst du jetzt zufrieden, endlich dasWerk der Zerstörung vollendet zu haben, du verfluchtes Drecksmonster?!
Das war nicht alles, wer das denkt, mein Bruder folgte mir unmittelbar (icherfuhr erst Jahre später von ihm, was ihm angetan worden war), auch er versagteund landete auf derselben Mittelschule, degradiert und deklassiert durch dasmonströse krankhafte Verbrechen eines Mannes, der nie hätte Vater werdendürfen. So sieht?s aus, und meine Mutter gab bei dem ganzen Szenario dieAhnungslose. Auch ihr vielen Dank!, durch ihre Blindheit und Ignoranz wurde siezur Komplizin ihres Mannes, wahrscheinlich bangte sie um das schöne Leben, dassie als Frau Pastor an der Seite dieser Bestie führen durfte, was auch immer,vielleicht hat sie wirklich von nichts gewusst, ich habe versucht, es aus ihrrauszukriegen, war aber nicht möglich, sie beharrte darauf, von solchen Dingendamals ja noch überhaupt keine Ahnung gehabt zu haben. Komischerweise war esfür sie auch in dem Moment kein Thema, als die Missbräuche an einigen anderenJungs öffentlich wurden und die Versetzung des Dreckschweins in eine andereStadt von der Amtskirche beschlossen wurde, wer will es wissen, lassen wir dieGute in dem Glauben, keine Schuld auf sich geladen zu haben.
In dieser Zeit stieg der Alte sichtbar zum Alkoholiker auf, ich meine, jetztwar es soweit, dass man es ihm ansah und es roch, wenn er die Treppe aus seinemAmtszimmer hoch in die Wohnung kam und sich mit glasigen lüsternenSchweineaugen an den Abendbrotstisch setzte, und immer, wenn er besoffen war,war er auch geil, was wir Jungs daran merkten, wie er uns bei jeder verdammtenGelegenheit zwischen die Beine guckte, und jedes Mal, wenn er es tat, würgte inmir ein elender Kotzbrocken hoch, den ich jedoch immer wieder runterschluckte,ich stand unter der Verurteilung zur Scham, ich schämte mich zu Tode wegen desUnfasslichen, was mir zugestoßen war, und es gab keine Möglichkeit, es im Rahmenunserer Familie damals anzusprechen, ich erstickte daran.
Der zweite mir bewusste Missbrauch fand im Jahr der Mondlandung statt, in denSommerferien in Scharbeutz an der Ostsee, ich kann aber nicht mehr, ich kann esjetzt nicht mehr schildern, es schmerzt zu sehr, es macht mich unendlich müdeund wütend und ich will eigentlich nur schlafen, vielleicht später.
Dann kam irgendwann die Information, dass die Versetzung beschlossen war, daswir nach B. gehen würden, und mir wurde schwarz vor Augen, es senkte sich vonoben herab ein schwarzer Vorhang vor meine Augen, und ich war in dem Moment derLetzte, der nach B. gehen wollte. Schon wieder alle Freunde aufgeben, schonwieder eine neue Schule und eine komplett neue Umgebung, ich hatte von alldemdie Schnauze gestrichen voll.

Ulf D.