Ich bin jetzt 62 Jahre alt.

Als ich 12 Jahre alt war, wurde ich von meiner Mutter missbraucht (Inzest). Erst vor fünf Jahren kam die Erinnerung an dieses Ereignis an die Oberfläche, mehr als 40 Jahre danach. Mein seelischer Schmerz war derart, dass in etwa 12 Krisen mein Herz langsam aufhörte zu schlagen und die Atmung aussetzte. Nur sehr knapp entkam ich dem Tod. Ich lebe in Frankreich, einem Land, in welchem die Auswirkungen von sexueller Gewalt noch stärker als in Deutschland negiert werden. Von Seiten der Psychiatrie erhielt ich keinerlei Hilfe, niemand nahm meine Geschichte ernst, jeder erklärte sie sei phantasiert. Bis mir zufällig eine Freundin meiner verstorbenen Mutter erzählte: ja, sie habe es gewusst, meine Mutter habe es ihr vor langer Zeit genau erzählt, sie selbst habe nicht gewusst, dass ich nichts davon wisse. Meine Frau reichte die Scheidung ein. Ich konnte nicht mehr in meinem Beruf arbeiten nach dem Nervenzusammenbruch, der sich etwa drei Wochen nach dem Wiedererleben des Inzest ereignete. Ich war eine Woche in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt, weil ich hoffte, dort Schutz zu finden. Dies war die dümmste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen hatte, denn dort wartete man allein darauf, dass ich verrückt würde, sonst nichts. Von den 15 Patienten in der psychiatrischen Anstalt waren neun dort, weil sie im wörtlichen Sinne verrückt geworden waren durch sexuelle Misshandlung in ihrer Kindheit.  In der Regel viele Jahre später. Unsere psychiatrischen Anstalten sind voll von späten Opfern sexuellen Missbrauchs.

Ich habe diese Situation überlebt, habe nach dem Zusammenbruch vor fünf Jahren mein Leben radikal geändert, habe mich zu einem glücklichen, freien Menschen entwickelt. Dies ist jedoch nicht die Regel. Mit Entsetzen hatte ich vor fünf Jahren feststellen müssen, dass meine Mutter als Kind regelmäßig von ihrem Vater missbraucht wurde, und, dass mein zweiter Sohn als 13 jähriger auf übelste Art missbraucht wurde. Er hatte als 24 jähriger endlich den Mut darüber zu sprechen, als er erfuhr, was mit mir geschehen war. Er erstattete vor fünf Jahren Anzeige, bis heute hat die Staatsanwaltschaft nichts unternommen.

Ja, so ist die Situation in unseren Gesellschaften. Kinder, nicht zu vergessen in der Mehrzahl Mädchen, sind immer noch sehr häufig Opfer sexueller Gewalt, wie viele genau weiß ich nicht, prozentuale Zahlen erscheinen mir auch nicht sehr wichtig. Es sind auf jeden Fall viel zu viele.

Ich bin einverstanden, mich mit meinem vollen Namen und Geschichte in Deinem Blog zu outen. Spreche seit fünf Jahren ganz offen darüber. Die derzeitige Diskussion in den Medien zu den Fällen in der katholischen Kirche zeigt mir, daß die meisten Menschen nicht begriffen haben, welche Leiden da zugefügt werden. Es ist ganz einfach nur noch tieftraurig.

Ich erlebte mit 12 Jahren den Inzest mit meiner Mutter. Wie reagierte ich darauf? – Mit Vergessen und mit häufigen, täglichen Ohnmachtsanfällen. Dank der Ohnmachtsanfälle wurde ich für 1 1/2 Jahre von meiner Familie getrennt und lebte in einem kleinen Kinderheim. Erst als ich 56 Jahre alt war kam die Erinnerung an dieses Ereignis in allerkleinsten Details wieder, einschließlich der Gerüche. Niemand in meiner Umgebung, ich einschließlich, hatte einen Zusammenhang gesehen, zwischen den Ohnmachtsanfällen und einem schweren psychischen Trauma. Meine Erfahrung mit der Klinischen Psychologie ist niederschmetternd. Es bleibt noch viel zu tun. Jedoch ohne Herzensbildung ist alle Forschung vergebens.

Frank Linnhoff

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