„Nimm Dich nicht so wichtig!“ Dieser oftmals geäußerte Satz meiner Eltern schrie in mir, als ich mich überwand und hier zum ersten Mal die Folgen meiner Missbrauchserfahrungen niederschrieb. Es ist der erste Schritt aus dem Nebel, der mein bisheriges L(i)eben beschattet:

Als elfjähriger Messdiener – 1970 – begleitete ich den Vikar meines Heimatdorfes in seinem VW-Käfer zu einem Jugendcamp. Während der Fahrt öffnete sich die Klappe des Handschuhfaches und ein Stapel rosaroter Homomagazine fiel auf meinem Schoß. Ohne zu wissen, was mir geschah, wurde ich in diesem Moment zur „Vertrauensperson“ erhoben. Ich erinnere noch an die Waldlichtung, in der ich kurz darauf zum ersten Mal vergewaltigt wurde.

Was im Folgenden passierte, kann ich hier gar nicht sagen, schreiben, fühlen… Auf jeden Fall wurde ich über einen längeren Zeitraum von diesem Vikar missbraucht.

Geboren wurde ich 1959 als drittes von sieben Kindern. Aufgewachsen bin ich in Ostbevern, einem kleinen Ort in der Nähe von Münster/Westfalen. Meine Eltern waren sehr konservativ-katholisch; mein Vater war Kirchenbeamter.

Da meine Eltern kein Fernseher hatten, lud mich der Vikar immer wieder – auch über meine Eltern – zum Sonntagnachmittagsfernsehen ein. Regelmäßig wurde ich bei der Gelegenheit sexuell missbraucht.

Ich habe lange Zeit diesen Missbrauch komplett abgespalten. Nach meinem Abitur auf einem Bischöflichen Knabenkonvikt – Schloss Loburg bei Münster – habe ich meinen Heimatort Ostbevern ganz schnell verlassen. Immer, wenn ich diesen Ort besuchte, ging es mir nach kurzer Zeit so schlecht, dass ich wieder fahren musste. 33 Jahre war mir nicht bewusst, warum ich diese heftigen Übelkeitsgefühle hatte!

Ein einschneidendes Ereignis war der 17.1.1997. An diesem Tag wurde ich zu einem Klassentreffen eingeladen. Je näher der Termin „6.6.1997“ rückte, umso schwächer fühlte ich mich. Am 1.5.1997 konnte ich nicht mehr laufen, die Luft bliebt mir weg: Eine Beckenvenenthrombose hatte mich am Weitergehen gehindert. Im Nachhinein wurde eine Faktor-V-Mutation diagnostiziert. Diese führt dazu, dass das Blut gerinnt und sich Thromben und Embolien entwickeln.
Der Ausbruch dieser Erkrankung verhinderte die Teilnahme an dem Klassentreffen. Der eigentliche Sinn aber war es, mich vor der räumlichen und emotionalen Nähe der Tatorte meines Missbrauchs zu schützen.

Aufgrund mehrerer Nahtodeserfahrungen im Zusammenhang mit dieser Erkrankung habe ich dann fünf Jahre lang eine tiefenpsychologische Körpertherapie gemacht. Ich habe in dieser Gruppentherapie viel über mich erfahren. Jedoch: Auch in der Zeit hätte ich jedem, der mich nach einem möglichen Missbrauch befragt hätte, den Vogel gezeigt!

Erst 2003 wurde mir mein Missbrauch bewusst: Nach einer Wanderung mit meinem Freund suchte dieser meinen Körper nach versteckten Zecken ab. Mir war dabei sehr komisch, ich musste die ganze Zeit „künstlich“ lachen… In der drauffolgenden Nacht wurde ich schweißgebadet von den Bildern und Gefühlen des Missbrauchs geweckt. Die harmlosen Berührungen meines Freundes hatten die Bilder wachgerufen und aus der Versenkung geholt. Vier Stunden musste ich duschen, kotzen, schreien – ich wusste nicht, wohin mit mir.

Etwa sechs Monate später habe ich dem Bischof von Münster mein Erleben schriftlich mitgeteilt. Daraufhin wurde ich eingeladen. Ich habe das Gespräch wie ein Verhör erlebt. Man wollte von mir wissen, welche Farbe und Musterung die Tapeten hatten, von welcher Firma der Fernseher war, wie viele Stufen die Treppe zum Schlafzimmer des Vikars hatten. Zum zweiten Gespräch begleitete mich dann mein Freund, der das Gespräch angesichts der für ihn unfassbaren Haltung der kirchlichen Vertreter abbrach.

Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, meinem Wunsch und mein Bedürfnis nach einer Beziehung zu verwirklichen. Alle Versuche scheiterten an meiner Unsicherheit, Vertauen in Nähe zu entwickeln. Und daran, dass es mir nicht möglich ist, mich in Nähe und Beziehung selbst zu fühlen und auch abzugrenzen. Ich hatte immer wieder das Gefühl, neben mir zu stehen, mich aufzulösen. Ich bin sicher, dass meine Unsicherheit und Unfähigkeit, mich in körperlicher und seelischer Nähe geborgen und sicher zu fühlen, eine maßgebliche Folge des Missbrauchs ist. Jede Form von „invasiver“ Berührung, sei es in der partnerschaftlichen Nähe oder beim Arzt, löst in mir eine Panik aus, die dann in Wut und Abwehr mündet. Diese Folge des Missbrauchs bestimmt mein Leben.

Die Berichterstattungen über die Missbrauchsfälle an Jesuitenschulen Anfang des Jahres wirkten wie ein „Trigger“. Ich erlebte den überwunden geglaubten Missbrauch, als sei er gerade geschehen. Die Gleichstellung der Opfer mit den Tätern – alle trugen einen Balken vor ihren Augen – hat mich unglaublich wütend gemacht. Ich möchte, dass die Balken verschwinden – die Not und die SCHAM der Opfer sichtbar werden. Ich möchte dazu beitragen, dass sich der Nebel lichtet, sich Angst in Vertrauen und Furcht in Widerstand wandelt.

Deshalb zeige ich mein Gesicht!

Martin Ruhmöller