DIE ZEIT 20.05.2010

Unter den Missbrauchsopfern der Jesuitenschulen wächst der Unmut über die Art der Aufklärung

Drei, die Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch an Jesuitenschulen wurden: Gernot Lucas (72) besuchte von 1950 bis 1958 das Aloisius-Kolleg in Bad Godesberg. Er ist emeritierter Professor für Architektur. Matthias Katsch (47) ging von 1973 bis 1981 ins Berliner Canisius-Kolleg. Er arbeitet heute als Projektmanager. Robert Schulle (43) war von 1976 bis 1984 ebenfalls auf dem Canisius-Kolleg und ist im öffentlichen Dienst beschäftigt.

DIE ZEIT: Ende Januar wurde öffentlich, dass Schüler an deutschen Jesuitenschulen über Jahrzehnte sexuell missbraucht und geschlagen wurden. Was ist aus Ihrer Sicht seitdem geschehen?

Gernot Lucas: Ich hatte das Geschehene über 50 Jahre tief in mir vergraben. Deshalb war es für mich wie für andere Betroffene eine Erlösung, endlich über den Missbrauch reden zu können. Ich hatte die Hoffnung, dass man die Opfer ernst nimmt, dass der Orden die Archive öffnet und alles aufarbeitet. Mittlerweile jedoch bin ich tief enttäuscht. Denn bislang ist nichts davon passiert. Ich glaube, wir Opfer sollen hingehalten werden. Ich fühle mich in gewisser Weise erneut missbraucht.

Robert Schulle: Ich habe meinen Fall unter großen seelischen Mühen mehrmals geschildert, unter anderem dem Provinzial der Jesuiten. Die einzige Antwort, die ich bislang erhielt, war ein Schreiben mit dem Satz: Danke für Ihren Beitrag zur Aufklärung.

Matthias Katsch: Ich hatte große Hoffnung, dass der Skandal in Deutschland anders verläuft als in den USA oder Irland, wo sich die Aufarbeitung über Jahre hinzog. Hier signalisierten die Jesuiten, vor allem der jetzige Rektor des Canisius-Kollegs, Pater Mertes, den Opfern: Wir glauben euch. Doch seitdem herrscht Schweigen. Kritisch sehe ich den runden Tisch in Berlin. Da wird über Missbrauch an sich und überhaupt diskutiert. Die direkte Verantwortung der Jesuiten geht unter.

ZEIT: Für die Aufarbeitung der Missbrauchstaten hat der Orden die Rechtsanwältin Ursula Raue beauftragt. In der Öffentlichkeit wurde dies sehr positiv aufgenommen.

Schulle: Die meisten von uns haben das Vertrauen in Frau Raue verloren. Mitte April gab es ein Treffen zwischen ihr und Betroffenen, zu dem ich nicht eingeladen wurde, obwohl man meine Daten hatte. Es endete nach übereinstimmenden Aussagen mehrerer Teilnehmer mit einem Scherbengericht. Ich selbst habe einmal ein Telefongespräch mit Frau Raue geführt. Ihre erste Aussage war, dass die Taten verjährt seien und ich mit keiner Entschädigung rechnen könne.

Katsch: Frau Raue scheint uns völlig überfordert. Die Taten sind doch längst klar, die Täter und die Institutionen bekannt. Dennoch sind wir, was die Aufklärung angeht, heute so schlau wie vor fünf Monaten. Ich habe den Eindruck, dass der Orden sich hinter seiner Missbrauchsbeauftragten versteckt.

ZEIT: Was sollten die Jesuiten tun?

Katsch: Erst einmal hätte der Orden die Opfer und ihre Familien fragen können, ob sie aktuelle Hilfe benötigen, etwa Therapien oder die Vermittlung von Selbsthilfeeinrichtungen. Das wird erst jetzt in Aussicht gestellt. Es wäre zudem sinnvoll gewesen, die Kommunikation der Betroffenen untereinander zu ermöglichen. Bisher dachten viele ja, sie seien das einzige Missbrauchsopfer. Auch das ist nicht geschehen.

Lucas: Wenn man wirklich aufklären wollte, müsste man die Archive in Rom einbeziehen, die Akten öffnen und uns Einblick gewähren.

ZEIT: Und der Datenschutz? Nicht alle Opfer wollen identifiziert werden.

Schulle: Dann muss man deren Namen anonymisieren, das funktioniert bei der Aufarbeitung anderer Verbrechen auch. Gewiss, das ist mit Aufwand verbunden. Aber auch der Missbrauch wurde über Jahre äußerst aufwendig betrieben.

ZEIT: Immerhin hat man Frau Raue doch jetzt weitere Mitarbeiter zur Seite gestellt.

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