Lübecker Nachrichten 23.05.2010
Von Curd Tönnemann

Sein Protest auf dem Ökumenischen Kirchentag ging durch die Medien. Missbrauchsopfer Norbert Denef aus Scharbeutz spricht jetzt von bewusster Inszenierung – und seinem Hauptziel.

„Lügentheater“ brüllt der 61-Jährige. „Wir werden zum Schweigen gebracht. Wir wollen uns selbst vertreten.“ Norbert Denef tobt vor einer Bühne, auf der die Katholische Kirche eine Podiumsdiskussion zu Missbrauchsfällen in ihren Reihen inszenieren will. Denef sorgt in München für einen Eklat, er scheint die Veranstaltung sprengen zu wollen. Denefs Wutanfall scheint spontan. Doch der Mann, Sprecher des „Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt“, sagt jetzt: „Es war alles Kalkül. Ich habe meinen Auftritt wochenlang akribisch vorbereitet. Die Journalisten waren bestellt.“

Der Scharbeutzer erklärt das so: „Ich wusste, dass von der Kirche mit dieser Veranstaltung der Deckel zugeschraubt werden sollte. Ich musste beweisen, wie Kirche Betroffene behandelt. Das ist mir gelungen.“ Sie, die da oben in der Kirche, die da oben auf der Bühne, sie redeten über die Köpfe der Opfer hinweg. Seit Jahrzehnten. Und wie erwartet auch in München. Deshalb habe er ein Zeichen setzen wollen. „Wir wollen auf Augenhöhe diskutieren. Anders werden wir nicht wahrgenommen.“

Denef hatte sich für seinen Auftritt in den Messehallen nach eigenen Worten mit einem Fernsehteam verabredet. Er habe von einer Opferschutzorganisation (SNAP) in den USA gelernt, wie man mit Kinderfotos Medienaufmerksamkeit erzeugt. Denef hält in München ein Schwarzweiß-Porträt von seiner Erstkommunion vor der Brust. Es zeigt einen andächtigen Zehnjährigen. „Mit Bildern demonstriert man, worum es geht. Bilder sind emotional.“

Wochen, nachdem diese Aufnahme entstand, begann der sexuelle Missbrauchs Denefs. Er selbst meidet dieses Wort, weil dessen zweite Silbe etwas Falsches suggeriere. Denef spricht stattdessen von sexualisierter Gewalt. Er leidet bis heute unter Alpträumen.

Sein persönlicher Leidensweg begann 1958 in seinem Heimatort Delitzsch bei Leipzig. Norbert Denef war zehn Jahre alt und wollte endlich Messdiener werden, „endlich auch zu dieser Gruppe gehören“. Zwei ältere Brüder waren bereits Ministranten. „Und der Pfarrer war so nett, überall im Dorf beliebt.“ Nach dem Gottesdienst nahm ihn der Geistliche mit ins Pfarrhaus. Doch es ging nicht in die Bücherei, wie der Junge glaubte, sondern in die Privaträume des Pfarrers in die erste Etage. „Der Pfarrer schloss die Tür ab, setzte sich in einen Sessel, nahm mich auf den Schoß.“ Dann fing er an, den Jungen auszuziehen, ihn im Intimbereich zu berühren. „Diese Bilder haben sich eingebrannt“, sagt Denef heute. Mehrere Male in der Woche passierte ihm das Gleiche. „Ich wusste nur, dass irgendetwas nicht richtig war.“ Denefs Martyrium dauerte sechs Jahre. Er habe mit niemandem darüber reden können. „Der Pfarrer war ein Freund der Familie.“ Eines Tages war der Pfarrer versetzt. „Einfach weg.“

Norbert Denef schloss sich erleichtert dem Kirchenchor an. Er war 16 Jahre alt war, als ein neuer Organist in die Gemeinde kam. Der Chorleiter feierte gerne mit den Jugendlichen. An solch einem Abend, man hatte etwas getrunken, bot der Kirchenangestellte Denef an, bei ihm auf der Couch zu übernachten. Kaum war das Licht aus, kroch er unter Norberts Decke. „Da ging die gleiche Scheiße weiter“, erinnert sich Denef an den „Seelenmord“, wie er es nennt, der weitere zwei Jahre dauert.

Mehr als drei Jahrzehnte schweigt Denef. Erst nach zahlreichen Therapien findet er schließlich die Kraft, den Missbrauch auszusprechen. Als er sich offenbart, stößt er in der eigenen Familie auf Unverständnis. „Du hast so lange geschwiegen, dann hättest du für den Rest deines Lebens auch noch deine Klappe halten können.“

Denef zeigt seine Peiniger an. Beide haben die Verbrechen schriftlich gestanden. Das Bistum Magdeburg räumt den Missbrauch durch einen Priester ein. Aus „christlicher Mitverantwortung“ wird Denef eine Entschädigungssumme von 25 000 Euro angeboten – um die „fortdauernde Traumatisierung“ zu lindern. Im Gegenzug solle Denef es unterlassen, „irgendwelche Informationen über die angeblich schädigenden Handlungen oder über die Zahlung des Geldbetrages Dritten gegenüber zu äußern“. Denef lehnt ab.

Nach zweijährigem Kampf mit Anwälten verzichtet die Kirche schließlich auf die Schweigeverpflichtung. „Symptomatisch“, sagt er. „Die Kirche gibt immer erst etwas zu, wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht.“ Auch heute noch, wo ein „Tsunami“ über sie hereingebrochen sei. So nennt Denef die Fülle bekannt gewordener Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche. Denef hat ein Netzwerk Betroffener gegründet. Sein Hauptziel: Die Aufhebung der Verjährungsfrist von sexuellem Missbrauch im Zivilrecht – und zwar rückwirkend. Eine entsprechende Petition an den Bundestag wurde abgelehnt. Denef sagt: „Der Staat schützt die Täter, nicht die Opfer.“ Gegen die Ablehnung sammelt der Scharbeutzer jetzt Unterschriften für eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof. 15 000 Menschen haben inzwischen im Internet-Aufritt von „Netzwerk B“ (www.netzwerkb.org) unterschrieben. „Ich muss weiter kämpfen“, sagt Denef. „Sonst halte ich das Leben nicht aus.“

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