Ich, Pfarrerstochter

Ende 30 stockt mein Leben. Als Künstlerin bin ich kreativ blockiert, in meiner Beziehung unglücklich und nun auch noch ein anonymer Telefon-Stalker.
Eine unbändige Wut taucht auf. Ich leide ohne Ende. Und es hört auch nicht auf, nachdem der Stalker Ruhe gibt. Ich habe Vergewaltigungsträume, in denen Männer aus meiner Familie die Täter sind. Mein Weltbild gerät aus den Fugen.
Sollte meine glückliche, behütete, bürgerliche Kindheit nur eine Illusion gewesen sein?
Nach und nach enthüllt sich die grausame Wahrheit: Ich wurde in dem evangelischen Pfarrhaus in Norddeutschland, in dem ich aufwuchs, nicht nur körperlich, sondern auch sexuell misshandelt.
Wie das passiert ist und passieren konnte, setzt sich nach und nach wie ein Puzzle zusammen.

Mein Vater ist Jesus
Als Kind dachte ich, mein Vater sei Jesus. Es gab so viele Parallelen: er trug auch einen Bart, er predigte, er erzählte den Menschen Geschichten von Gott, er segnete die Gemeinde, teilte Abendmahl aus. Am meisten überzeugt hat mich sein Satz „Mein Gott, mein Gott, warum  hast du mich verlassen?“ in der Ostergeschichte, den er aus tiefster Seele schmetterte. Das glaubte ich ihm aufs Wort. Er konnte nur Jesus sein. Und Jesus war gut. Das lernte ich früh und gründlich. Daraus entstand die logische Schlussfolgerung, dass mein Vater gut sein musste. Erst Jahrzehnte später konnte ich diese Gehirnwäsche durchschauen und der Wahrheit ins Auge blicken: Mein Vater war nicht gut, mein Vater war ein Verbrecher.

Scheinheiligkeit und Doppelmoral
Mein Vater war oberflächlich ein „progressiver“ evangelischer Pfarrer. Er traute sich, den schwarzen Talar ab und zu gegen einen beigefarbenen auszutauschen, führte Abendgottesdienste in Taizé-Tradition ein, wetterte auf der Kanzel politisch links und demonstrierte in den 80er-Jahren gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen.
Andererseits gehörte er einer extrem konservativen Bruderschaft an, die fanatisch klösterliche Traditionen pflegte wie z.B. gregorianische Gesänge und das Stundengebet. Doch von dieser Bruderschaft, die für seine wahre Gesinnung stand wusste kaum jemand in der Gemeinde. Äußerlich war er der moderne Pfarrer, innerfamiliär ein Gewalttäter und Verbrecher. Was schizophren klingt, ist in Wahrheit das ambivalente Wesen des Gutmenschen.

Die Mutter/Pfarrfrau
Meine Mutter misshandelte mich in Form von ruppigem körperlichem Umgang, Ohrfeigen und Schlägen mit dem Kochlöffel auf den nackten Hintern. Außerdem demontierte sie mich psychisch wie sie nur konnte. Daß sie gegen die sexuelle Gewalt meines Vaters nichts unternahm, mag einer gewissen Genugtuung geschuldet sein, da sie selbst als Kind von ihrem Vater vergewaltigt worden war, wie ich später von Verwandten erfuhr. Sie kam aus pietistischen Verhältnissen, war fromm und verhärmt, der Prototyp einer Pfarrfrau.

Die Geschwister
Meine Geschwister misshandelten mich körperlich und sexuell. Das hatten sie einerseits von ihren Eltern abgeschaut, andererseits gaben sie die ebenfalls durch die Eltern erlittene Gewalt an mich weiter.

Folter
Wird im politischen Sinne so definiert, dass in einem totalitären System mittels körperlicher und psychischer Gewalt der Wille eines Häftlings gebeugt und ein Geständnis bzw. die Herausgabe von Informationen erzwungen wird.
Das gewalttätige, dysfunktionale Familiensystem, in dem ich aufwuchs, war ein totalitäres System. Die körperlichen, psychischen und sexuellen Misshandlungen dienten dazu, meinen Willen zu brechen und – ob ausgesprochen oder nicht – das Geständnis zu erzwingen, dass ich böse und schuldig sein und daher diese Behandlung verdient habe. Man könnte es auch einfach Gehirnwäsche nennen oder Stockholm-Syndrom, aber Folter halte ich dennoch ebenso für angemessen.
Eine Vergewaltigung ist für einen Säugling oder ein Kleinkind nichts anderes als eine Folter.

Mitschuld der Gesellschaft
Kindesmisshandlung wurde Anfang der 70er-Jahre nicht als Vergehen angesehen, selbst in den Schulen war die sog. Prügelstrafe noch erlaubt. Das Thema sexuelle Kindesmisshandlung wurde entweder komplett verschwiegen oder aber bagatellisiert – wie von der linken Bewegung Ende der 70er-Jahre, die eine Entkriminalisierung dieser Straftaten forderte.
So hatte ich niemanden, der für mich eingestanden wäre und mich in Schutz genommen hätte, ja der wenigstens ausgesprochen hätte, dass es Unrecht war, was mir geschah.
Die Familie hat weggeschaut, die Gesellschaft hätte ebenso weggeschaut, wenn ich mein Schweigen hätte brechen können.

Folgen der Misshandlungen
Ich kann es am besten mit einem Riß beschreiben, der quer durch mein Leben geht. Meine Kindheit war voller Qual, ich weinte jeden Tag bis ich 10 Jahre alt war, danach lernte ich „tapfer“ zu sein, auch weil meine Geschwister mein Weinen nachäfften , was mich zusätzlich demütigte.
Als Jugendliche hatte ich ein äußerst geringes Selbstwertgefühl. Mein weiblicher Körper war mir fremd. Als Erwachsene geriet ich stets an Männer, die mich dominierten, kein Gespür für meine Bedürfnisse hatten und emotional schlecht behandelten. Beruflich schaffte ich es gerade so durchzukommen, arbeitete in unterbezahlten Jobs. Ich war depressiv und mir dessen nicht bewusst. Im Nebel sieht man den Himmel nicht.

Die Pfarrersleute reagierten auf meine Enthüllungen mit Enterbung. Ich lebe nun weit weg, relativ glücklich auf einem anderen Stern.

Geraldine