netzwerkB 10.10.2010

Von Amos Ruth

Nach der letzten Sitzung des Runden Tisches verkündete die Ministerin für Justiz frohen Mutes, dass die Verjährungsfrist für Entschädigungsansprüche nach sexuellem Missbrauch auf 30 Jahre verlängert wird. Dass weder die Ministerin noch der Runde Tisch in der Bundesrepublik als Gesetzgeber legitimiert sind, hat die Ministerin in diesem Augenblick wohl in Verwechselung der gesetzlichen und der realen Gegebenheit in der Euphorie ihres Erfolges nicht mehr realisiert. Mit der Ankündigung der Verlängerung der Verjährungsfrist erhält die Petition des Norbert Denef an den Bundestag und die nach Ihrer Ablehnung folgende Beschwerde vor dem EGMR neue Aktualität einschließlich des wichtigen Faktums, dass sie sich nur gegen die Frist des Zivil-, nicht aber des Strafrechts wendet.

Die Verjährungsfrist ist in ihrer jetzigen Form gültig seit dem 01.01.2002. Mit ihr will der Gesetzgeber ermöglichen, das der Schadenersatzanspruchsgläubiger „ohne fremde Einflussnahme darüber entscheiden kann, ob er seinen Anspruch durchsetzt oder nicht“, so die Begründung des Gesetzestextes. Drei Jahre, so mag ein jeder annehmen, sind eine lange Zeit. Drei Jahre sollten auf jeden Fall ausreichend sein, eine Entscheidung zu treffen, ob ja oder ob nein des geltend machens eines Anspruchs. Denn nur darum geht es; mit dem formalen Akt des geltend Machens des Anspruchs ist die Verjährungsfrist eingehalten, die Entscheidung über den Anspruch selbst, noch weniger die formale Abwicklung eines anerkannten Anspruchs müssen innerhalb der drei Jahre erfolgen. Einer so argumentierenden Person kann kaum ernsthaft widersprochen werden. Wenn dennoch die Verjährungsfrist ein Problem darstellt, kann es nicht die Frist an sich sein. So gerät notwendig die zweite Dimension der Verjährungsfrist in den Blick, nämlich der Zeitpunkt, an dem die Frist zu laufen beginnt. Dieser Zeitpunkt ist festgesetzt mit der Vollendung des 21. Lebensjahres des Missbrauchten. Damit gibt es faktisch sogar zwei Dreijahresfristen, nämlich die vom 18. bis zum 21. Lebensjahr, die für die „notwendige emotionale Verarbeitung“ zu nutzen ist, nach deren Abschluss die zweite Frist zur Entscheidung über die Erhebung an Ansprüchen zur Verfügung steht. Alles also in Butter – wo liegt das Problem, das doch so offenbar vorhanden ist?

Die Bestimmungen über die Verjährung ist Teil geltenden Rechts. Recht steht nicht für sich allein, es ist nicht selbstherstellend, sondern es ist Ausdruck der Art und Weise des Zusammenlebens von Menschen. Es setzt also den Menschen voraus und ein Zusammenleben von Menschen, es bildet die Modi dieses Zusammenlebens ab, ohne die Grundlagen des Zusammenlebens selbst erfassen zu können und zu wollen, dass, was wir als Ethos, als Moral zu bezeichnen pflegen – Recht soll moralisch sein, ist aber nicht die Moral selbst. Stammt Recht aus der Sozialität des Menschen, so wirkt Recht, sobald es wirkt, in die Sozialität des Menschen hinein. Es ist somit Ausfluss der Lebenswirklichkeit sowie es die Lebenswirklichkeit beeinflusst, aber Recht ist nie Lebenswirklichkeit selbst, sowenig es jemals die Moral selbst sein kann oder auch jemals gewesen ist.

Bildet das Recht aber die Lebenswirklichkeit ab, so ist Lebenswirklichkeit, dass die emotionale Aufarbeitung eines Missbrauchten durch diesen genau am 19. Geburtstag beginnen und am 22. Geburtstag des Missbrauchten abgeschlossen ist. Es ist Lebenswirklichkeit, dass der Missbrauchte genau am 22. Geburtstag die Freiheit erlangt hat, innerhalb derer er dann über die Erhebung von Ansprüchen gegen den Schuldner entscheiden kann. Es ist leicht einzusehen und wird wohl kaum irgendwo bestritten werden: Diese Setzung hat mit der Lebenswirklichkeit nichts gemein. Ebenso wenig wird bestritten werden: Der Beginn der Aufarbeitung kann so wenig bürokratisch-technokratisch verordnet werden wie ihr Ende. Damit ist das oben gesuchte Problem beschrieben, gleichzeitig aber die nächste Frage gestellt: Wie ist der Beginn der Frist zur Verjährung zu setzen?

Hier werden – so auch in der oben genannten Petition an den Bundestag und in der Beschwerde an den EGMR – immer und ohne jeden Zweifel mit allem Recht psychologische Effekte angeführt, die einerseits erst das Überleben des Geschehens ermöglichen, andererseits aber sich als schwer abbaubar erweisen dann, wenn das Geschehen nicht mehr ein aktuelles Geschehen ist. Ihr Abbau kann nicht bürokratisch, gar von außen, verordnet werden wie der Beginn des Abrisses eines Bahnhofes, sowenig wie die Dauer des Abbaus einer bürokratisch-technokratischen Verordnung zugänglich ist. Noch weitergehend: Nicht einmal die zum Abbau benötigten Eigen- und Fremdmittel sind planbar und damit bürokratisch zugänglich. Die Möglichkeit des Beginns des Abbaus von Überlebensmitteln hängt jedoch nicht nur von inneren Gegebenheiten ab, sondern auch von den äußeren Gegebenheiten, innerhalb derer der Missbrauchte lebt: von seiner sozialen Lebenswirklichkeit. Ein Abriss nicht mehr notwendiger Überlebensmittel, so die These, ist erst möglich nach einer Befreiung aus der Lebenswirklichkeit, innerhalb derer Missbrauch stattgefunden hat.

Oft geschieht Missbrauch innerhalb der Familie oder innerhalb des – angeblich – geschützten Raumes von Kirche. Ein Missbrauchter scheidet jedoch nicht mit der Vollendung des 18. Lebensjahres notwendig aus der Kirche aus. Besteht hier immerhin die Möglichkeit des Ausscheidens, ist die Möglichkeit des Ausscheidens aus der Familie zumindest technisch überhaupt nicht verfügbar. Auf die Familie als Ort von Missbrauch bezogen heißt dass, dass die Frist zur emotionalen Verarbeitung überhaupt sehr wohl gesetzt werden kann, diese jedoch vollständig eine leere Setzung ist, weil die Bedingung dieses Beginns überhaupt nicht existent ist.

Anders bei der Kirche. Hier ist die Möglichkeit des Austritts gemäß staatlichem Recht gegeben, damit ist zumindest ein Zeitpunkt denkbar, an dem die emotionale Verarbeitung als begonnen angenommen werden kann. Damit kann auch bürokratisch der Beginn einer Verjährungsfrist festgesetzt werden. Damit ist jedoch wenig erreicht, ist der formale Austritt doch nur als Folge eines Nachdenkens selbst denkbar, das als Aufarbeitung zu bestimmen durchaus vielfach sicher die Wirklichkeit treffen würde. Emotionale Verarbeitung eines innerhalb von Kirche und der Kirche angehörigen Missbrauchten (analoges gilt grundsätzlich auch für `Familie´) muss somit innerhalb der Kirche selbst erfolgen. Sie ist jedoch nur dann möglich, wenn das Geschehene als Unrecht überhaupt erkannt wird, wenn also vom Missbrauchten nach der Qualität des Geschehenen überhaupt erst gefragt wird, somit gefragt werden kann. Die Lehre von Kirche verbietet jedoch genau diese Frage, hat doch der Gläubige, der Laie zu glauben, was ihm das Lehramt und in seinem Gefolge die Priester zu glauben vorlegen. Zweifel an den von Kirche vorgelegten Aussagen reichen jedoch nicht aus, werden diese bei ständiger Bestätigung durch Menschen, die an diesen Aussagen eben nicht zweifeln, als unzulässig, ungehörig bestimmt und so in den Hintergrund gedrängt. Eine Aufarbeitung erscheint so erst dann möglich, wenn innerhalb des Denkens des Missbrauchten eintritt, was Weber die Situation der `kognitive Minderheit´ genannt hat, wenn also die Menge der Zweifel im Denken die Menge der die Zweifel verdrängenden, überlagernden Gedanken überwiegt. Erst wenn diese Situation eintritt, ist der Missbrauchte überhaupt technisch in der Lage, Fragen nicht nur zu stellen, sondern auch unabhängig, damit frei, wenn auch nicht unbeeinflusst, Antworten auf die Fragen zu suchen und – hoffentlich – zu finden. Damit ist der Zeitpunkt bestimmt, an dem die emotionale Verarbeitung beginnen kann: Sie beginnt dann, wenn die Aussagen des Glaubens in die Situation der kognitiven Minderheit in Bezug auf alle Aussagen zum Thema geraten. Wann dieser Zeitpunkt erreicht ist, entzieht sich jeder bürokratischen oder technokratischen Festsetzung und Bestimmung von Außen. Dennoch sind drei Feststellungen möglich. Erstens ist die im Recht genannte Bedingung der Freiheit von fremden Einflüssen in jedem Fall so illusorisch wie sie nicht notwendig ist. Notwendig ist zweitens die Situation der `kognitive Minderheit´ für von der Kirche (analog der Familie) ausgehenden Einflüsse innerhalb der Gesamtheit der Einflüsse. Drittens erweist es sich vor diesem Hintergrund als selbstwidersprüchlich, wenn Kirche einerseits bestimmenden Einfluss auf den glaubenden Missbrauchten zu halten versucht, andererseits eine Verjährungsfrist fordert und in Anspruch nimmt, gleich welcher Länge.

Der Petitent an den Bundestag, nachmaliger Beschwerdeführer beim EGMR, hat nur das Zivilrecht, nicht das Strafrecht im Blick. Diese Ausrichtung schließt sich logisch an die oben genannten Überlegungen an, sie ist faktisch deren Konklusion dann, wenn die jeweiligen Strafinteressenten in den Blick genommen werden. Das Strafrecht ist Ausdruck des Strafinteresses der sozialen Gemeinschaft gegenüber einem Mitglied dieser Gemeinschaft. Verliert die Gemeinschaft (nicht notwendig jeder einzelne in Ihr) ihr Interesse an Strafe, ist Strafe sinnlos. Dieser Verlust erfolgt vor allem durch das Fortschreiten in der Zeit, dann, wenn der zu Strafende in der Zeit keine weitere Handlung begeht, die strafwürdig erscheint. Hier ist z.B. das Bewährungsrecht ursächlich zu verorten.

Das Zivilrecht hebt auf das Interesse des Einzelnen ab, das nur insoweit vom Interesse der Gemeinschaft beeinflusst wird, als der Rechtsfrieden innerhalb der Gemeinschaft durch das Einzelinteresse nicht gestört werden soll. Das bedingt, dass ein zu erhebender Anspruch nicht auf ewig ein Anspruch bleiben kann, sondern entweder erhoben werden muss – oder aber verfällt. Das Rechtsmittel dazu ist die Verjährung. Somit setzt die Verjährung die Erhebung voraus, diese das Erkennen des Anspruchs. Das Erkennen hängt jedoch direkt von der Möglichkeit der emotionalen Verarbeitung überhaupt ab, damit im Falle von Missbrauch vom Eintritt der Situation der `kognitiven Minderheit´ der Einflüsse von Kirche, analog der Familie.

Das Resümee: Nicht die Verjährungsfrist als solche ist das Problem, sondern die Festlegung des Zeitpunktes ihres Beginns. Dieser allein lebenswirklich zu bestimmende Zeitpunkt ist eben deshalb bürokratisch-technokratisch nicht zu fassen. Die Verlängerung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre ist eine bürokratisch-technokratische Hilfskonstruktion in dem Versuch, der Lebenswirklichkeit näher zu kommen. Dennoch kann sie ihr nicht entsprechen. Trotz dieses grundsätzlichen Defizits ist die Verlängerung der Verjährung ohne Zweifel ein Fortschritt, auch wenn die Verjährungsfrist weiterhin bei der Vollendung des 21. Lebensjahres eines Missbrauchten beginnen sollte. Eine andere Setzung ist zwar so wünschenswert wie begründet, allerdings wohl kaum von der Wirklichkeit gedeckt.

Aber gerade weil der Beginn wohl eine bürokratische Setzung bleiben wird, bleibt die Verjährungsfrist letztlich, was jede Verjährungsfrist in Bezug auf Missbrauch immer war: ungerechtes, ungerechtfertigtes Druckmittel in den Händen eines Entschädigungsanspruchsschuldners.