Ich bin in den siebziger Jahren Schüler am Aloisiuskolleg gewesen. Ich bin dort von einem Pater seelisch und körperlich misshandelt worden, weil er offenbar von mir besessen schien und mich unbedingt brechen wollte, um mich zu besitzen.

Ein Satz, der sich nicht so leicht hinschreibt. Aber er stimmt. Drei furchtbare Jahre bin ich von diesem Mann wie von einem enttäuschten Liebhaber gequält und gedemütigt worden. Und was war sein Ziel? Mich unter seine Dusche zu bekommen. Ein Satz, der sich nicht so leicht glauben lässt. Doch auch er stimmt.

Am Ende stand für mich das Ende: der Verweis von der Schule – und zwar ohne Schulabschluss. Nach diesem Hinauswurf war ich nicht mehr in der Lage, eine andere Schule zu besuchen. Dass ich trotzdem noch meinen Weg ins Leben gefunden habe, ist nicht das Verdienst des Kollegs.

Der Reihe nach. Ich stamme aus katholischem Milieu. Die Eltern waren noch vor dem Mauerbau aus der DDR ins Rheinland geflohen, nicht zuletzt wegen der Verfolgung allen christlichen Lebens durch die Kommunisten. Und so fühlte ich mich am Aloisiuskolleg zunächst einmal recht wohl. All die Gebete, die Heiligen Messen, der Religionsunterricht, das schien so ganz meine Welt zu sein. Auch bei der Jugendorganisation, dem ND, dem Bund Neu Deutschland, hatte ich mich gleich als Sextaner angemeldet. Ich war bis zum Ende dabei, hatte wohl kein einziges Ferienlager verpasst, wurde sogar „Jungritter“. Und genauso ritterlich fühlte ich mich auch. Meinen Mitschülern gegenüber immer hilfsbereit, mit großen Respekt vor dem anderen Geschlecht.

Mit den Lehrern kam ich gut zurecht. Meine Leistungen waren ordentlich. Nur in Mathematik war ich ein wenig zurück. Ich betete darum, dass es bloß keine Nachhilfe geben würde.

Für diese war nämlich der Internatsleiter zuständig. Ein vielbeschäftigter Mann. Der hatte nun wirklich alle Hände voll zu tun. Nicht nur mit der Pflege des naturwissenschaftlichen Bereichs der Schule, sondern auch mit anderen Dingen. Er war als der große „Nackte-Jungens-Photograf“ bekannt. Als großer „rektaler Fiebermesser“. Als großer „Kleine-Jungens-Abduscher“.

Als Internatsleiter war er schon damals innerhalb des Kollegs mächtig, brachte er doch die Spendengelder der wohlbetuchten Internatseltern ein. Ein weiteres Hobby war der Park. Sein Park. Hier durften dann die Eltern besonders der Schüler, die in schulische Schwierigkeiten geraten waren, Bäume spenden. Dies half wundersamer Weise auch bei den schlechtesten Schulnoten. Interessanterweise auch in solchen Fächern, mit denen er als Mathematiklehrer gar nichts zu tun hatte.

Beim Anlegen des Parkes durften dann auch strafwürdige Schüler zur Hand gehen. Strafwürdig war man, wenn man zum Beispiel über den Gang hastete. Aber auch wenn man bummelte. Also: Hemd aus, Spaten in die Hand, und nachher half dann der Pater persönlich, den ehrlich erworbenen Schweiss wieder abzuduschen.

Ausserdem war er damit befasst, sich ständing neue Bestrafungen einfallen zu lassen. Von denen sollte ich bald auch ein paar zu schmecken bekommen.

Aber noch waren wir uns ja noch nicht begegnet, da ich externer Schüler war und er meistens im Internat beschäftigt war. Dort hingen auch die erotischen Jungens-Bildchen, die er tagsüber so schoß, an den Wänden. Er war eigentlich den ganzen Tag von nackten Jungens umgeben, auf Bildern, beim Duschen, beim Fiebermessen und beim Bestrafen. Im Schulpark stand und steht noch heute die Statue mit den zwei vornübergebeugten nackten Jungen mit kleinen Penissen. Wie bitte, alles ganz harmlos? Wieso stehen dann vor der Godesberger Nonnenschule nicht auch zwei nackte Bronzemädchen mit gespreizten Beinen …

Während der Schulferien nahm er sich vier oder fünf Jungs mit zum Segeln nach Korsika oder zum Saunen nach Finnland. Eigentlich hätte man erwartet, dass ein Pater (Vater!) seine Filii (Söhne!) mit nach Rom oder Lourdes nimmt. Und zwar bekleidet. Musste er im Unterricht nicht gelitten haben wie ein Hund, da dies die einzige Zeit des Tages war, wo er keine nackten Jungs zu sehen bekam! Allerdings wusste er sich auch hier Abhilfe zu verschaffen und so musste der eine oder andere sich in den Pausen bei ihm zu einer Kleideranprobe oder zum Beschnuppern, dem „Gestankstest“, einfinden.

Dieser sollte auch mir noch blühen, aber dazu später. Er war auch bekannt dafür, unbotmässige Jungs nackt in dunkle Räume einzusperren oder in den eiskalten Brunnen steigen zu lassen. Von all dem hatten wir natürlich bereits gehört. Dann mussten das aber doch auch die anderen Lehrer gewußt haben!

Ich hatte also schon Angst, als ich erfuhr, dass er unser neuer Mathematiklehrer werden sollte.

Vielleicht hatte ich mich deshalb nach den Sommerferien, obwohl ich mich bereits im Übergang in die Pubertät befand, noch einmal so richtig knabenmäßig „schulfein“ gemacht. Wie zur Empfängnis des Kommunionssakramentes. Mit Seitenscheitel, Kragenhemd und Bügelfalte in der Hose. Ich sah das neue Schuljahr als Chance für einen neuen Start und als Sprungbrett in die Oberstufe und wollte nichts falsch machen. Ich wusste nicht, dass dies der Anfang zu einem zwei Jahre dauernden Martyrium werden sollte.

Den Tag, an dem ich jenem Dämon buchstäblich in die Arme gelaufen bin, vergesse ich nicht. Ausgerechnet vor jener Stunde, als wir das erste Mal bei ihm Unterricht hatten, mußte ich noch einmal rasch zur Toillette. Ich war spät dran und drängte zur Tür. Unser neuer Mathematiklehrer war viel zu früh da und kam gerade in die Klasse. Ein erstaunter Blick – mein braver Aufzug muss ihm aber gefallen haben. Jedenfalls fragte er mich unendlich milde und ein wenig kumpelhaft, wohin ich denn hinwolle. Ich sagte ihm, dass ich noch rasch zur Toilette müsste. Und mit lächelnden Augen und einer sehr freundlichen Handbewegung forderte er mich auf, dem doch in aller Ruhe nachzukommen. Ich war glücklich. Der von allen gefürchtete Mann war auf Anhieb mein Freund geworden. Also alles nur Gerüchte. Oder wussten alle, die die sich da beschwerten hatten, offenbar nur nicht, wie man mit diesem grundgütigen Mann umzugehen hatte?

Naja, jedenfalls – mein Einstand in das neue Schuljahr schien gelungen. Auch sonst lief es nicht schlecht. Durch meine zurückhaltende Art hatte ich mir bald den Respekt der Klasse verschafft. Privat stellte sich bald schon die eine oder andere liebe Freundin ein. Das neugewonnene Selbstbewusstsein drückte sich auch bald schon in etwas modischerer Kleidung und in sicherem Auftreten aus.

Aber ach! Genau dies waren die Dinge, die mich bei jenem Pater, der nun unser neuer Mathematiklehrer geworden war, in Ungnade fallen liessen. Während ich in der Phase, in welcher jener bestrebt gewesen war, ein Vertrauensverhältniss zu mir aufzubauen, nur Milde und Freundlichkeit von ihm spürte, sollte ich nun zu bemerken bekommen, welche zerstörerischen Kräfte in diesem leidenschaftlichen Manne wüteten.

In der folgenden Zeit benahm er sich wie ein zurückgewiesener Liebhaber. Mal beleidigt und jähzornig, mal kalt berechnend bei seinen vielen Versuchen, mich doch noch unter seine Kontrolle zu bekommen.

Es begann zunächst langsam. Er starrte mich dauernd an. Versuchte mich einzuschüchtern. Vielleicht war dies aber auch noch die Test-Phase. Ich konnte dieses seltsame Verhalten mit meinem Kabenverstand natürlich nicht begreifen und reagierte daher auch nicht. Das provozierte ihn nur noch mehr. Er forderte mich fast jeden Tag vor versammelter Klasse heraus. Bald forderte er mich zu Armdrücken und kleinen Kämpfchen auf. Ich hielt stand, besiegte ihn sogar im Armdrücken. Dabei galt der großgewachsene Mann als sehr stark, verteilte üble Kopfnüsse, nahm Schüler in den Polizeigriff und machte uns während des Mathematik-Unterrichts Turnübungen vor. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es dumm von mir war, ihn im Armdrücken zu besiegen. Inzwischen aber bin ich überzeugt, dass dieser Sieg mich vor nochschlimmeren Übergriffen bewahrt haben könnte.

So gab es einmal die Situation, wo er mich in einen Spind eingeschlossen hatte. Ich spürte die Gefahr, die davon ausging, dass ich mit ihm auf so engen Raum alleine eingesperrt war. Es war zuerst dunkel und er fummelte rum, ich dachte, er suche nach dem Lichtschalter, hörte Geräusche, die ich nicht einordnen konnte, genausowenig wie die nassen Flecken auf dem Boden. Ein paarmal hat er mich im Dunkeln berührt. Ich weiss nicht mehr, wie lange das gedauert hat, aber ich weiss heute noch, wie erleichtert ich darüber gewesen war, dass ich mich doch hatte nicht ausziehen müssen – wie in jenen Geschichten, die man sich heimlich in den Pausen erzählte. Ich weiss nicht, warum mir das damals erspart blieb. Er muss seine Zweifel gehabt haben. Sich vielleicht vor meiner Reaktion gefürchtet haben.

Er hat dann erstmal weiter versucht, mich weichzukochen. Mich als dumm und ungehobelt abzustempeln. Machte abfällige Bemerkungen über mich. Diese Schikanen und öffentlichen Demütigungen steigerten sich. Bald schon wurde es mir morgens zur Qual, den Berg zur Schule hinauf zu gehen. Jeden Morgen ein Gang zum Schaffot. Jedenfalls an den drei Tagen, an denen wir Mathematikuntericht hatten. Aber auch an den Tagen dazwischen konnte ich mir nie ganz sicher sein. Meine Erfolge in Mathematik waren ihm nicht recht. Dabei war ich sein bester Schüler. Ich hatte fast immer schon in der ersten Stunde, in der ein neues Thema angesprochen wurde begriffen, um was es gehen würde.

Meine Klassenarbeiten waren fehlerlos. Aber wegen angeblich schlechter Schrift oder Form oder ähnlichem hat er mir nie eine Eins gegeben sondern nur Zweien. Meine Klassenarbeiten musste ich bald allein in einen Putzspind eingeschlossen schreiben. Dann hat er verboten, dass ich während der Pausen den Klassenraum verlasse, damit die teuren und zahlenden Internatseltern meine schreckliche Gestalt nicht sehen sollten und nicht abgeschreckt würden. Er sagte, ich wirke abstossend auf die Umwelt. Ich war jetzt also zu hässlich geworden für seine schöne Schule. Wie er das mit dem Arrest für mich während der Pausen durchgesetzt hatte, begreife ich nicht. Die Fluraufsicht wurde instruiert darauf zu achten, dass ich den Klassenraum nicht verlasse.

Schliesslich wurde von ihm vor der ganzen Klasse behauptet, dass ich stinke, alle Mitschüler sollten gefälligst mal an mir riechen. Auch er selbst hat an mir rumgeschnuppert. Überall! Besonders da, wo er den Gestank so vermutete. Da, am Hosenstall, unter den Armen! Freilich, nicht jeder meiner Klassenkameraden hatte bei dieser Aktion mitmachen müsssen. Er wusste schon, wen er da auswählen konnte. Sie hatten sich in einer Reihe aufzustellen, ein gutes Dutzend, und so kamen sie einern nach dem anderen an die Reihe, mich zu beschnuppern und ihr Urteil abzugeben. Abschliessend presste er selbst noch einmal seine Nase und seinen Mund auf mein Geschlecht, holte tief und lange Luft und sagte dann: „Ekelhaft!“

Besonders entäuscht bin ich, einige der Schnupperer auf der Liste der 500 gefunden zu haben, die das Aloisiuskolleg mit ihrem die Opfer verletzenden Schreiben als vorbildliche Schule verteidigen. Ich hatte eigentlich Mitleid mit denjenigen gehabt. Ich war davon ausgegangen, dass es ihnen peinlich gewesen war, so wie ein Hund an mir herumschnüffeln zu müssen. Keiner sagte direkt, dass ich stinken würde, nur so ´naja´und ´vielleicht´.

Im Anschluss führte mich der Pater in einer Art Polizeigriff, der sehr schmerzhaft war, aus der Klasse geradewegs zum Direktor. Die ganze Klasse habe sich darüber beschwert, wie ich stinke! Man wolle dort meinen Gestank nicht mehr aushalten. Der Direktor solle doch bloß auch einmal an mir riechen.

Das hat er dann auch getan. Allerdings mit gerunzelter Stirn und aus respektvollem Abstand.

Darauf schloss sich eine Besprechung im Nebenzimmer an. Ich musste warten. Offenbar sollte mit dieser Aktion versucht werden , vom Direktor die Erlaubniss zu erlangen, dass ich als externer Schüler abgeduscht werden dürfte. Das tat er, mein Mathematiklehrer, ja bei den Internatsschülern regelmässig , aber bei mir, als nicht im Internat Lebenden, hatte er normalerweise kein Recht dazu.

Anscheinend hatte ihm aber auch der Direktor die erhoffte Erlaubnis nicht gegeben. Jedenfalls kam mein Mathematiklehrer mit hochroten Kopf aus dem Zimmer heraus, ging an mir vorbei, ohne mich anzuschauen und knallte die Tür hinter sich zu. Kurz darauf kam der Direktor heraus. Auch mit rotem Kopf. Er selbst hätte zwar nichts gerochen, aber er wolle mir empfehlen, doch morgens zu duschen und Deo zu benutzen.

Diese obesessive Verfolgen schien nun zur Manie geworden zu sein. Wenn ich einmal krank war, wurde mir von ihm jedesmal nach Hause hinterhertelefoniert. Er stieß dann am Telefon alle möglichen Drohungen gegen mich aus. Sagte, dass er mich immer unter Beobachtung hätte und dass ich ihm nicht entgehen könne. Jedesmal schien er entäuscht, mich zuhause angetroffen zu haben. Hätte er doch sonst den Beweis gehabt, dass ich in sein Internat gehöre. Es war absolut nicht üblich, dass ein Lehrer einem externen Schüler hinterhertelefonierte. Man brachte am nächsten Tag eine von den Eltern unterschriebene Entschuldigung mit, fertig. Mich aber verfolgte er bis nach Hause.

Nachdem sich also meine Eltern erfolgreich seinem Ansinnen widersetzt hatten, mich seinem Internat einzuverleiben, mich ihm also ganz auszuliefern, war jetzt seine Strategie, hatte ich endgültig aus seinen Augen zu verschwinden. Deshalb erzählte er jetzt alle möglichen Geschichten über mich.

Schliesslich hatte ich einen Unfall, meine Abwesenheit hat der Pater dann genutzt, um zwei Wochen vor Abschluss der mittleren Reife eine Konferenz einzuberufen und mich feuern zu lassen. Der blaue Brief kam zu mir ins Wald-Krankenhaus, der Schule verwiesen wegen Subversivität! (Unter heutigen Gesichtspunkten verstehe ich das durchaus als eine Auszeichnung!). In dem Schreiben stand nur, dass ich der Schule verwiesen war, mit dem Hinweis auf subversives Verhalten. Zu irgendwelchen Vergehen hat mich nie jemand befragt. Was ich getan haben sollte, kann ich auch nur erahnen oder erraten, aus Gesprächen mit Eltern und Lehrern im nachhinein. Es ging wohl um sehr schwere Vorwürfe, die der Pater gegen mich gemacht hatte. Drogenhandel, Körperverletzung, Erpressung und natürlich: Vergewaltigungen! Das wurde alles ungeprüft geglaubt, aber nicht etwa bei der Polizei angezeigt, sondern ich wurde der Schule verwiesen.

So hat dieser Mann drei Jahre lang dermaßen viel Energie auf mich gerichtet, dass man wohl sagen kann, er war von mir nahezu besessen. Manchmal frage ich mich, wie er zu anderem überhaupt noch Zeit haben konnte. Vor allem aber frage ich mich, wieso die Schulleitung damals nichts getan hat.

Heute unterscheide ich zwischen Täter und Verantwortlichem. Mein Täter war ein raffinierter und intelligenter, aber brutaler Mann. Er ist in meinen Augen sadistisch und pädophil veranlagt gewesen, hat sich später der Rechtfertigung durch Demenz entzogen. Andere Täter haben sich in den Tod gerettet.

Mein Täter war aber auch ein Getriebener. Durch den Austausch mit anderen Betroffenen habe ich nachvollziehen können, wie aus dem lüsternen Jüngling aus den Frankfurter Exerzitien der frühen 60er ein mächtiger Mann wurde, der sich auf dem heiligen Berg sein Päderasten-Fürstentum aufgebaut hat. Andere Täter wiederum haben Hilferufe in Form von Briefen an den Provinzial verfasst. Es war ihnen vor sich selbst nicht geheuer. Es waren Getriebene, für die ich heute eine Mischung aus Ekel, Abscheu und Mitleid empfinde.

Ich begreife aber nicht, wie man sie nicht hat aufhalten können. Nicht hat stoppen wollen. Waren sie wirklich so wichtig für den Schulbetrieb, für den Orden? Gut, sie haben viel Geld eingebracht. Das Internat vollgemacht. Aber war es nur Habgier, die die Verantwortlichen zum Wegschauen veranlasst hat?

Ich weiß, die Täter können nichts wieder gut machen. Sie sind mir auch egal. Ich möchte von ihnen und ihren Gespenstern nicht mehr belästigt werden. Ich habe ihnen nichts zu entschuldigen. Ich bin mir sicher, dass sie an ihrer eigenen Hölle leiden.