Mit dem Bekanntwerden erster Missbrauchsfälle im Frühjahr diesen Jahres habe ich mir lange Zeit überlegt, ob ich mit meiner eigenen Geschichte an die Öffentlichkeit gehe. Es hat lange gedauert, bis ich mich dazu überwunden habe. Es musste einfach heraus. Insbesondere Eltern von schulpflichtigen Kindern sollen wissen, dass man auch Menschen,
die kraft ihres Status besonders hohe moralisch-ethische Ansprüche haben, durchaus auch mit Skepsis begegnen sollte.

Bis zu meinem Abitur 1968 besuchte ich das Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg. Im Volksmund hieß sie die „Schule auf dem heiligen Berg“, da sie auf einer Anhöhe liegt mit Blick über die ganze Stadt. Aus dieser Zeit sind nicht nur furchtbare Fälle sexuellen Missbrauchs ans Tageslicht gekommen, in jener Zeit war es auch gang und gäbe, dass Schüler in oft brutaler Weise körperlich gezüchtigt wurden. Und ich spreche hier nicht von der „Watsch’n“, die in einem ersten Zornesaffekt einem aufgebrachten Lehrer schon eimal entgleiten konnte, was freilich damals aber auch schon verboten war, sondern ich spreche von Schlägen und Fußtritten, die verletzen sollten, verletzen mussten und auch verletzt haben.

Es waren weniger die weltlichen Lehrer, die auf uns einprügelten. Obwohl im Lehrkörper in der Unterzahl – ca. 20% unserer Lehrer waren Jesuitenpatres, in den übrigen Fächern unterrichteten uns weltliche Lehrer –, waren es ausgerechnet die Ordensbrüder, die gewalttätig wurden.

Mein Lateinlehrer Pater X. zählte dazu. Er war ein sehr seltsamer Mensch, mit sehr seltsamen Verhaltensweisen. Als Lehrer war er streng, sehr streng, auf der einen Seite war er auch herzensgut und konnte eine fast kindliche Freude entwickeln. Ich erinnere mich noch gut, dass er besondere Freude daran hatte, wenn ein Mitschüler das Lied „Auf der schwäb’schen Eisenbahne“ in schwäbischer Mundart vorsang, Pater X. muss wohl aus der Region gekommen sein. Dann kullerten dem Pater mitunter die Tränen über die Wangen und er klatschte dazu wie ein kleines Kind in die Hände. Im gleichen Moment konnte aber auch seine Stimmung umschlagen und er drosch auf uns ein. Dabei konnte man feststellen, dass er sich mit jedem Schlag regelrecht in Ekstase prügelte und erst aufhörte, wenn ihn die Kräfte verließen. Das verprügelte Kind konnte noch so schreien und jammern, in der Regel steigerte das nur noch seine Wut.

Auch war bekannt, dass sich jener Pater regelmässig in seiner eigenen Klausur geißelte. Er muss sich dabei selber furchtbare Verletzungen zugefügt haben, seine Schmerzensschreie sollen weithin auf dem Akogelände zu hören gewesen sein. Wegen dieser Praktiken oder vielleicht auch noch aus anderen Gründen war der Pater im Kreise der Lehrerkollegen
ein Aussenseiter.

Als 11-jähriger Schüler – ich muss damals in der Quinta oder Quarta gewesen sein – wurde ich von Pater X. so verprügelt, dass ich mehrere Tage krank zu Hause blieb. Dieser Pater schlug, war er einmal in „Rage“ und das geschah des öfteren, wie von Sinnen die Schüler mit den Fäusten auf den Kopf.

Was ihn damals so in Rage gebracht hat, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, natürlich haben wir damals so manchen Schabernack „verzapft“ und gelegentlich auch den Unterricht gestört. Aber unsere Streiche waren sicher harmlos. Und wir waren – Kinder …

Pater X. kam jedenfalls wie eine Furie an meinen Platz. Wir saßen damals noch in Schulbänken, aus denen es, stand der Lehrer erst einmal neben einem, kein Entrinnen mehr gab, und schlug mir mit beiden Fäusten auf die Schädeldecke. Wie viele Schläge ich abbekommen habe, ich weiß es nicht mehr. Meinen Arm, den ich schützend über den Kopf gehoben hatte, zerrte er zur Seite. Man konnte spüren, dass ihn diese meine instinktiv vorgenommene „Schutzmaßnahme“ in seiner Wut nur noch steigerte. Und so nahm die Prügelei ihren Lauf.

Es war am Ende der Schulstunde und in der darauf folgenden Pause lief ich völlig aufgelöst vorzeitig vom Schulgelände nach Hause. Meine Mutter war zutiefst bestürzt und besprach sich sofort mit meinem Vater, der daraufhin den Direktor der Schule, Pater Y., überden Vorfall informierte und um eine Stellungnahme der Schule bat. Am gleichen Tag noch erschien der Konrektor des Ako, Herr OStD. P., zu einer Unterredung mit meinen Eltern, bei der ich nicht zugegen war. P. war Kegelbruder meines Vaters und ich kann mir gut vorstellen, dass P. sich darum bemühte, meinen Vater davon zu überzeugen, die ganze Sache „unter der Decke zu halten“. War es doch an sich schon ungewöhnlich, dass sich meine Eltern beschwert hatten und damit das Risiko eingegangen waren, dass ich vom Ako hätte entfernt werden können. Das war damals eine gängige Praxis, sich unliebsamer, weil aus der Sicht der Patres aufsässiger Schüler zu entledigen.

In meinem Fall hatten die Schläge besonders fatale Folgen. Ich war erst wenige Tage von einer Gehirnerschütterung wieder genesen. Als kleiner Junge (im Alter von 5 oder 6 Jahren) wurde eine Augenfehlstellung durch eine Langzeitbehandlung (Abdeckung des schielenden Auges) weitest gehend korrigiert. Durch die nicht zur Ausheilung gekommenen Gehirnerschütterung und die neuerlichen Schläge auf den Kopf wurde diese Behandlung, also die Augenkorrektur, zunichte gemacht.

Seit dieser Zeit leide ich an einer gravierenden nicht mehr reparablen Fehlstellung eines Auges, die auch bewirkt hat, dass die Sehstärke dieses „Schielauges“ im Laufe der Zeit auf 20% gesunken ist und räumliches Sehen gar nicht möglich ist. Diese Augenfehlstellung begleitet mich mein ganzes Leben und beeinträchtigt mich sowohl körperlich als auch psychisch. Insbesondere als junger Mann habe ich wahnsinnig unter Minderwertigkeitskomplexen gelitten. Heute noch plagen mich regelmäßig auftretenden, schweren Kopfschmerzen, die nachdem nun in den letzten Monaten dies alles wieder hoch kommt, besonders heftig sind.

Für den besagten Pater gab es offensichtlich keine Konsequenzen, dieser und seine Mitbrüder prügelten weiterhin. Doch eine Folge hatte dies alles, von dem Zeitpunkt an wurden die Kinder, die reif für eine Tracht Prügel waren, gefragt, ob sie in jüngster zeit eine Kopfverletzung hatten. Wurde dies bejaht, was natürlich sehr selten der Fall war, gab es als Prügelersatz eine saftige schriftliche Strafarbeit.

Jahre später, ich hatte inzwischen als Abiturient die Schule verlassen, nahm ich mir ein Herz und machte mich auf den Weg zum „heiligen Berg“. Ich wollte Pater X. zur Rede stellen und von ihm wissen, warum er mir das damals angetan hatte. Zu meinem Erstaunen empfing mich Pater X. in seinem Zimmer. Ich traf aber einen hilflosen, gebrochenen Mann an. Pater X. lag im Endstadium einer schweren Krankheit, an der er kurze Zeit später versterben sollte. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm meine Fragen zu stellen. Stattdessen folgte ich seiner Bitte, mit ihm zusammen zu beten. So blieb es mir für immer versagt, das zu erfahren, warum ich mich auf dem Weg zu ihm gemacht hatte.