Stand: 11. Januar 2011

Die Bezeichnung „Opfer“ für Betroffene von sexualisierter Gewalt ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Das liegt in erster Linie an dem vorherrschenden gesellschaftlichen Paradigma, wonach „Opfer“ als Verlierer gelten. In hierarchisch strukturierten Gesellschaften (als die die unsere trotz einigen Jahrzehnten der Demokratisierung nach wie vor gekennzeichnet ist) genießen die „Gewinner“, die Handelnden, diejenigen, die aktiv sind, Ansehen. Sie werden mit Stärke, Kompetenz, Macht, Einfluss, Tatkraft, Lebenstüchtigkeit, Verdiensten, Souveränität usw. in Verbindung gebracht. Dem „Opfer“ dagegen wird Schwäche, Inkompetenz, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Inaktivität, Lebensuntüchtigkeit, Versagen, Dummheit usw. unterstellt.

Die meisten Menschen identifizieren sich lieber mit den Attributen der „Gewinner“. Dagegen lösen die vermeintlichen Opferkennzeichen häufig heftige Abwehrreaktionen aus. Dies erklärt zum Teil, warum sich im Falle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder Außenstehende oftmals eher mit dem Handelnden (Täter) solidarisieren als mit dem Opfer. Die Bezeichnung „Opfer“ birgt also für die Betroffenen die Gefahr der Abwehrreaktion, der Ausgrenzung und der versagten Unterstützung.

In einer Gesellschaft, in der jede/r selbst seines Glückes Schmied ist und dem Tüchtigen die Welt gehört, werden zudem die dem „Opfer“ zugeschriebenen Kennzeichen wie Schwäche, Ohnmacht, Versagen, etc. zur persönlichen „Schuld“. Egal wie ungleich die Machtverhältnisse sind oder waren, die einen Menschen zum „Opfer“ gemacht haben, in der öffentlichen Wahrnehmung wird dem Betroffenen mangelnde Bereitschaft, sich zu wehren, mangelnde Durchsetzungskraft, mangelnder Widerstand und damit mindestens Mitschuld unterstellt.

Da die Bezeichnung „Opfer“ mit Ohnmacht, Hilflosigkeit, Schwäche, etc. gleichgesetzt wird, birgt sie für Betroffene auch die Gefahr, auf diese Attribute dauerhaft festgelegt zu werden. Nichtbetroffene ebenso wie Betroffene selbst übersehen dadurch leicht, dass Menschen, die sexualisierte Gewalt überlebt haben, im Gegenteil über ein besonderes Maß an Stärke, Lebenswillen, Intelligenz und Durchhaltevermögen verfügen müssen, denn sonst hätten sie die dauerhaft lebensbedrohlichen Zustände ihrer Kindheit nicht überlebt.

Nicht zuletzt liegt für Betroffene im „Opferstatus“ auch die Gefahr, dass erneut andere Menschen über sie verfügen, Entscheidungen für sie treffen, ihre Persönlichkeitsrechte missachten, ihre Grenzen verletzen. Selbst scheinbare Hilfsangebote haben oftmals den Charakter von Entmündigung bzw. Nichternstnehmen der Betroffenen. Als „Opfer“ werden Betroffene zu „Betreuungsfällen“, zu Menschen, die „behandelt“ werden müssen und deren Aussagen nur eingeschränkten Realitätsgehalt haben.

Kritisch am Begriff „Opfer“ ist für Betroffene also der gesellschaftliche Umgang damit. Viel zu oft dient er der Stigmatisierung, Abwertung und Ausgrenzung von Betroffenen. Die fragwürdige gesellschaftliche Definition und der nicht minder fragwürdige Umgang mit dem Begriff „Opfer“ wird von Betroffenen von sexualisierter Gewalt massiv kritisiert und abgelehnt.

Denn tatsächlich ist es so, dass Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben bzw. überlebt haben, real Opfer geworden sind. Innerhalb des Rechtssystems werden diejenigen, die gegen Gesetze verstoßen, üblicherweise als „Täter“ bezeichnet, und diejenigen, die Angriffen ausgesetzt sind oder waren, als Opfer. Der Begriff Opfer benennt die tatsächliche Schädigung einer Person und die gesellschaftliche Pflicht zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter.

Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben bzw. überlebt haben, sind Opfer von Verbrechen. Dies nicht so zu benennen, würde erneut einer Verschleierung des Straftatbestands Vorschub leisten. Um der Bagatellisierung dieser Verbrechen entgegen zu wirken und den Straftatbestand sowie die daraus resultierenden massiven Folgen deutlich zu machen, ist es nötig und sinnvoll, Betroffene klar als Opfer bzw. Verbrechensopfer zu benennen.

Für Betroffene macht die (Selbst)Bezeichnung Opfer auch deutlich, dass sie UNSCHULDIG sind und dass ihnen SCHADEN zugefügt wurde. Er begründet ihren berechtigten Anspruch auf Gerechtigkeit, Sühne und Schadenswiedergutmachung.

Der schmerzhafteste Punkt im Umgang mit dem Begriff „Opfer“ ist für Betroffene, dass sie in ihrem Leben TATSÄCHLICH in Situationen waren, in denen sie TATSÄCHLICH Opfer waren. Dass sie Situationen erleben mussten, in denen sich eine andere Person ihrer bemächtigt hat und sie dieser Bemächtigung hilflos und ohnmächtig ausgeliefert waren. Erwachsene Überlebende stehen daher in dem Dilemma, einerseits diese Situationen und das durch die Bemächtigung verursachte Unrecht klar zu benennen – was auch das Aussprechen des „Opfer geworden seins“ umfasst. Andererseits müssen sie sich der gesellschaftlichen Stigmatisierung, die mit dem Begriff „Opfer“ verbunden ist, ebenso verweigern wie der anhaltenden öffentlichen „Verdinglichung“ (als „Missbrauchsobjekt“), in die sie der Täter gezwungen hat.

Aus all diesen Gründen bevorzugen Betroffene von sexualisierter Gewalt für sich die Bezeichnung „Betroffene (von sexualisierter Gewalt)“ oder „Überlebende (von sexualisierter Gewalt)“. Im korrekten, nicht-stigmatisierenden und täteridentifizierenden Kontext bezeichnen sie sich selbst aber ebenso als Opfer. Nichtbetroffene sollten sich bei der Verwendung des Begriffs „Opfer“ die fragwürdige gesellschaftliche Definition und den fragwürdigen gesellschaftlichen Umgang damit vor Augen führen und auf den entsprechenden korrekten Kontext achten (oder gleich nur den Begriff „Betroffene“, bzw. „Überlebende“ verwenden).

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