Stand: 15. Januar 2011

Der Begriff „Seelenmord“ wurde von der Autorin Ursula Wirtz geprägt. Wirtz nennt sexualisierte Gewalt an Kindern einen „Angriff auf die menschliche Würde, auf die seelische und körperliche Integrität und damit die Identität des Kindes“. Das wahre Selbst des Kindes, sein Kern, seine Seele, das, mit dem es bereits auf diese Welt kam, werde durch die Übergriffe „ermordet“, so Wirtz. (1)

Die US-amerikanische Psychiaterin Judith L. Herman beschreibt den „Mord an der Seele“ so: „Das sichere Gefühl, mit schützenden und sorgenden Menschen verbunden zu sein, ist die Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung. Wird die Verbundenheit zerstört, verliert der Traumatisierte sein fundamentales Selbstgefühl.“ (2)

„Es gibt tatsächlich keine zuverlässigere Methode, einem Menschen die Existenz zu nehmen, als an ihr oder ihm sexualisierte Gewalt auszuüben. Diese Gewaltform ist das wirksamste Vehikel, um einen Menschen zu zerstören“, so die Psychologin Monika Gerstendörfer. (3)

„Sexualisierte körperliche oder psychische Gewalt gegenüber einem Menschen, gleich welchen Alters und welchen Geschlechts, stellt immer einen massiven Verstoß gegen das jedem Individuum selbstverständlich zustehende Recht auf Leben, auf körperliche und psychische Unversehrtheit, Intimsphäre und Würde dar“, bringt es die Medizinerin Ingrid Olbricht auf den Punkt. (4)

Kindheit ist die Zeit, in der der Mensch kognitiv, sozial, emotional und wie wir heute wissen auch neuronal lernt, lernt, lernt. Und zwar von seiner Umgebung. Je nachdem, welche Informationen und noch wichtiger: welche Beziehungsangebote diese Umgebung macht, kann sich ein Kind gut oder weniger gut entwickeln und entsprechend zu einem gesunden oder weniger gesunden Menschen heranreifen. Als Kind ist der Mensch äußerst verletzbar (vulnerabel), abhängig und ausgeliefert.

„Ein Kind braucht all das von seiner Mutter, seinem Vater, seiner Familie und auch von allen anderen Menschen seines Kulturkreises bereitgestellte Wissen, deren Gefühle, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, um aus den in seinem Gehirn bereitgestellten neuronalen Verschaltungsangeboten und synaptischen Verknüpfungsmöglichkeiten ganz bestimmte Verschaltungen und Verbindungen zu stabilisieren und in Form innerer Repräsentanzen zu verankern“, so der Hirnforscher Gerald Hüther (5).

Bekommt ein Kind positive Angebote wie Schutz, Fürsorge, Nahrung, Wärme, Unterstützung, Stabilität, Vertrauen, Bestätigung, etc., findet es die geeigneten Bedingungen vor, um sich altersgemäß zu entwickeln und sich neugierig, mutig, voller Zuversicht und Selbstvertrauen immer wieder neuen Lernaufgaben zu stellen. Werden einem Kind diese für seine Entwicklung dringend benötigten Angebote verweigert, kann es sie nicht von sich aus ersetzen und entsprechend defizitär verläuft die weitere Entwicklung.

Wird ein Kind* mit sexualisierter Gewalt bzw. sexualisiertem Macht-Missbrauch durch einen Erwachsenen konfrontiert, stellt dies nicht nur eine Verweigerung dessen dar, was das Kind von einem Erwachsenen eigentlich lebensnotwendig benötigt, sondern es bedeutet darüber hinaus eine massive Überforderung seiner kognitiven, emotionalen, sozialen und neuronalen Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten. Sexualisierte Gewalt setzt ein Kind in extremer Weise Hilflosigkeit und Angst aus.

Erfährt ein Kind sexualisierte Gewalt durch einen Erwachsenen – womöglich sogar einer Vertrauensperson –, so löst dies aufgrund der absoluten Abhängigkeitssituation des Kindes ein massives Gefühl der Lebensbedrohung aus. Das, was eigentlich Schutz und Sicherheit bieten sollte, wird zur Gefahr – und für das Kind gibt es keine Möglichkeit, auf eine andere Schutz- oder Sicherheitsquelle auszuweichen. Sexualisierte Gewalt führt zum Zusammenbruch des Grundsicherheitsempfindens des Kindes und zum Verlust des Glaubens an die Welt als guten, vertrauenswürdigen, sicheren Ort.

Sexualisierte Gewalt bzw. sexualisierter Machtmissbrauch eines Erwachsenen gegenüber einem Kind führt zwangsläufig zum Verlust des Vertrauens in Erwachsene, also die Menschen, auf die das Kind für seine weitere Entwicklung absolut angewiesen ist. „Das traumatische Ereignis zerstört den Glauben, dass man in Beziehung zu anderen ein eigenständiges Selbst bewahren kann.“ (2)

Die Erfahrung sexualisierter Gewalt zerstört aber nicht nur das Vertrauen in die Erwachsenen, sondern auch (und das viel nachhaltiger und folgenreicher für das spätere Leben als Erwachsener) in sich selbst. Da ein Kind mit der Verarbeitung von Gewalterfahrungen in der Kindheit zum einen völlig überfordert ist, und zum anderen – zumal wenn die Gewalterfahrung im direkten Umfeld erfahren wurde – sich auch noch damit „arrangieren“ muss, in diesem Umfeld weiterzuleben, verlässt es sich sozusagen selbst und verinnerlicht die Schuld, die eigentlich bei den Erwachsenen liegt. Das kindliche solipsistische Denken verstärkt diese Tendenz, dem eigenen Selbst zu misstrauen und es zu verachten („Böse Dinge passieren nur bösen Kindern“). Somit ist das Selbstvertrauen eines solchen Kindes nachhaltig und tiefgründig erschüttert.

Sexualisierte Gewalt bedeutet den Verlust der Kindheit/Jugend, weil es für das Kind diesen dringend benötigten positiven Entwicklungsraum nach diesem Verrat durch den Erwachsenen nicht mehr gibt. Zumal sich sexualisierte Gewalt in der Familie und im institutionellen Kontext in der Regel nicht auf einmaliges Ereignis beschränkt, sondern sich zumeist über Jahre und mit Steigerungen hinzieht.

Ein Kind ohne Kindheit, ohne Vertrauen in Erwachsene oder die Welt als guten, sicheren Ort, von den Möglichkeiten einer positiven, gesunden Entwicklung abgeschnitten und dabei häufig über Jahre in extremer Weise Hilflosigkeit, (Todes)Angst und Isolation ausgesetzt, ist ein Kind, das eigentlich nicht lebensfähig ist. Es ist ein Kind, das in unreifem Zustand mit Lebensumständen konfrontiert wird, die schon für jeden Erwachsenen eine massive Überforderung darstellen würden. Es ist ein Kind, das ohne das dringend notwendige Lebensrüstzeug, dafür aber mit einer Vielzahl an giftigen, untauglichen, behindernden und selbstschädigenden Informationen und Eindrücken versuchen muss, dem Leben zu begegnen.

Deshalb bezeichnen wir sexualisierte Gewalt an Kindern als Seelenmord.

* Nach Baurmann (6) sind 90 Prozent der Vergewaltigungsopfer Mädchen oder Frauen, zwei Drittel von ihnen im Alter von 5 – 13 Jahren. Trube-Becker (7) verweist darauf, dass gerade im familiären Bereich die sexuelle Ausbeutung sehr häufig bereits im Säuglingsalter beginnt. Heiliger/Engelfried (8) berichten hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Aufschlüsselung der Opfer von 76 Prozent Mädchen und 24 Prozent Jungen.

(1) Ursula Wirtz „Seelenmord“, Kreuz-Verlag 1989
(2) Judith L. Herman „Die Narben der Gewalt“, Junfermann 2003
(3) Monika Gerstendörfer „Der verlorene Kampf um die Wörter“, Junfermann 2007
(4) Ingrid Olbricht, „Wege aus der Angst“, C.H.Beck 2004
(5) Gerald Hüther, Ines Krens „Das Geheimnis der ersten neun Monate“, Beltz 2005
(6) Baurmann, M. C., „Sexualität, Gewalt und psychische Folgen“, Bundeskriminalamt 1983
(7) Elisabeth Trube-Becker, „Mißbrauchte Kinder“, Kriminalistik Verlag 1992
(8) Anita Heiliger, Constance Engelfried, „Sexuelle Gewalt“, Campus 1995

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