netzwerkB 20.05.2011

Kommentar zum Film „Und wir sind nicht die Einzigen“

von Katharina Micada

Dokumentarfilm über die sexualisierte Gewalt durch Lehrer an der reformpädagogischen Vorzeigeschule Odenwaldschule

Im Rahmen eines Pädagogik-Seminars fuhr ich Anfang der 90er-Jahre mit einem Bus voller StudentInnen samt dem Pädagogikprofessor auf Exkursion zur Odenwaldschule. Zuvor hatten wir uns im Seminar mit Reformpädagogik auseinandergesetzt, voller Enthusiasmus hatte ich eine Hausarbeit über Martin Wagenschein geschrieben, ein großes Thema war auch Hartmut von Hentig. Und nun besuchten wir begeistert die Stätte, wo diese pädagogischen Visionen Wirklichkeit geworden waren. Etwas wehmütig wünschten wir uns an solch einer coolen Schule unsere Schulzeit verbracht zu haben.
Wir ahnten nicht, wie die Schattenseite dieser Schule aussah.

Von Ahnungslosigkeit handelt auch der Film des Regisseurs Christoph Röhl, der als Englisch-Assistent einige Jahre an der sog. „OSO“ unterrichtet hatte. Von Ahnungslosigkeit und Mitverantwortung seitens der Lehrer, vom „wissen-hätten-können“. Und von dem engmaschigen System aus Manipulation, Gewalt und Vertuschung. Vor allem aber handelt er von den Betroffenen, die als Schüler den sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen von insgesamt 18 Lehrern ausgesetzt waren.

Mutig, eloquent und mit offenem Blick berichten sie von der – von außen sektenhaft erscheinenden –  Atmosphäre, die dort herrschte und die der Nährboden für die Verbrechen war. Wie die Täter das Ausgehungertsein nach Zuwendung der emotional vernachlässigten Kinder und Jugendlichen ausnutzten und ein Netz um sie spannen, aus dem sie sich nicht oder erst sehr spät von selbst befreien konnten. Denn auch die Scham verschloss den Betroffenen meist für Jahrzehnte den Mund. Dazu das Gefühl mitgemacht zu haben, eine Mitschuld zu tragen. Die Übergriffe wurden seitens der Täter als am griechischen Ideal orientierte „Knabenliebe“ verbrämt, wer sich weigerte galt als verklemmt oder sollte sich so sehen.

Der Film holt nach, was den Betroffenen jahrelang nicht gelang: man hört ihnen zu, muß ihnen endlich zuhören. Im Detail, in Großaufnahme, man kann sich nicht entziehen. Und das ist gut so. Denn neben der Empörung über die Verbrechen an sich ist schwer verdaulich, wie lange die Betroffenen durchhalten mussten, bis das Thema endlich öffentlich und in der Schule diskutiert wurde. Nach mehreren Anläufen, die von der Schule abgeschmettert wurden und auch medial im Sande verliefen gelang es erst bei einem weiteren Anlauf im Hinblick auf die 100-Jahr-Feier der Schule und mit Hilfe der Aufdeckungswelle Anfang 2010 das Eis des Schweigens zu durchbrechen.

Wie die Schule sich zuerst kooperativ zeigte und die Betroffenen dann aber doch im Regen stehen ließ, kam leider zu wenig zum Ausdruck.

Ein wichtiger Film, ein überfälliger Film.

Sendetermin: Di, 24.Mai, 22.25 Uhr auf 3sat

Website zum Film: http://nichtdieeinzigen.de