Publik-Forum EXTRA Mai/Juni 2011

Von Norbert Denef

Mit acht Jahren habe ich zum ersten Mal die Ostsee gesehen. Das war bei einem Kinderferienlager auf Usedom. Es war Strandwetter, und wir Kinder mussten in Reih und Glied den Marsch ans Meer antreten. Wir sind durch einen wunderschönen Buchenwald gelaufen und kamen schließlich an einer Steilküste an. Siebzig, achtzig Meter gings da runter. Aber vor uns: Das Meer! Dieser Augenblick hat mein ganzes Leben geprägt. Es war so ein Wahnsinnsgefühl von Freiheit und Weite. Von Aufgehobensein. Das kannte ich bis dahin nicht aus meinem Kinderleben. Von dieser Zeit an hatte ich immer den Drang zum Meer; er hat mich nie verlassen.

Bevor ich vor zwei Jahren nach Scharbeutz gezogen bin – vorher habe ich achtundzwanzig Jahre lang in Dreieich bei Frankfurt am Main gelebt – dachte ich zuerst: Schau sie dir nochmal an, die Ostsee, vielleicht ist das ja alles nur eine Spinnerei mit dem ewigen Drang zum Meer.
Ich bin also eine Woche nach Usedom gefahren; ich bin nochmal in meine Geschichte eingestiegen. Meine Tochter kam mit, das fand ich toll. Es war Ende März, wir hatten wunderschönes Wetter. Ich bin in das Kinderferienlager – und dann genau denselben Weg abgegangen wie damals. Ich bin eingetaucht in meine Gefühlswelt als Kind. Und ich habe festgestellt: Die Ostsee ist noch hundert Mal schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Schön war dieses Unendliche. Diese perfekte Linie am Horizont. Ich bin durch meine psychischen Schäden Perfektionist geworden; vielleicht liebe ich das deshalb so. Der Horizont hat für mich aber vor allem etwas Befreiendes, denn ich weiß: Hinter dem Horizont geht´s weiter. Da wartet das Leben.

Damals, als ich acht Jahre alt war, wollte ich partout nicht ins Kinderferienlager. Ich wollte nicht von zu Hause weg, schrie und weinte und klammerte mich an meine Mutter. Doch es half nichts. Sie setze mich in Delitzsch in den Zug, wo schon all die anderen Kinder warteten. Während der ganzen Fahrt – ich glaube, sie dauerte fast zwölf Stunden – war mir hundeübel; ich vertrug das Bahn- und Busfahren nicht. „Das überlebst du nicht!“, dachte ich. Doch ich überlebte – und die Begegnung mit dem Meer auf Usedom hat mich dann die ganzen Jahre über getragen. Was nach Usedom kam, war sehr finster. Aber dieses Licht am Meer, diese Weite, konnte mir niemand mehr nehmen.

Die Ostsee ist meine Therapeutin. Wenn ich die nicht gehabt hätte, als im vergangenen Jahr der Missbrauchs-Tsunami in der Presse tobte – und ich so beschäftigt war mit diesen ständigen Interviews, mit diesem Stress -, also wenn ich da meine Ostsee nicht gehabt hätte, ich hätte es nicht ertragen. In mir war dieses starke Gefühl: Ich muss die Kraft aufbringen, meine Geschichte zu erzählen, denn es kommt keine zweite Chance. Ich konnte oft nicht mehr weiter und habe doch weitergemacht. Da war diese Wut in mir, die hat mich vorwärts getrieben. Und ich hatte die Ostsee. Wenn ich gar nicht mehr konnte, wenn ich von einer Radiosendung kam und wusste, dass es am nächsten Tag genauso weitergeht wie es an diesem Tag aufgehört hatte, bin ich manchmal noch spät runter an den Strand, bin da zwei, drei Stunden gewandert – und bin vollgetankt mit Energie wieder hoch gekommen.

Ich bin seit meiner Kindheit lärmgeschädigt. Das hängt damit zusammen, dass ich von meinem zehnten Lebensjahr an in einer Wohnung missbraucht worden bin, an der Autos vorbeifuhren. Sie lag an einer viel befahrenen Straße. Mir geht es heute noch so, dass ich Lärm nicht ertragen kann. Technischer Lärm tut mir im Kopf weh. Aber wenn das Meer tobt, das ist was anderes! Das kann gar nicht genug toben. Das ist Balsam für meine Seele. Am besten ist es, wenn ich gegen den Sturm anrenne. Wenn er meinen Kopf leer bläst, dann kann ich wieder frei atmen.

Mittlerweile gehe ich fast jeden Tag in der Ostsee schwimmen. Meistens morgens, da hat man das Meer ganz für sich allein. Wir haben am Timmendorfer Strand ein Thermalbad, von dort aus kann man direkt rausschwimmen. Ich mache das bei jedem Wetter, auch wenn´s stürmt und schneit. Es ist besonders schön, auf dem Rücken zu schwimmen und Möwen über mir kreisen zu sehen. Die stehen da in der Luft und genießen den Wind. So wie ich manchmal am Strand stehe und den Sturm genieße. Wenn es einen Himmel geben sollte, kann er nicht schöner sein als das.

Heute ist Ostwind, hohe Brandung, das tobt hier! Ich habe schon auch Respekt vor dem Meer, es hat seine Tücken. Einmal bin ich sehr weit rausgeschwommen, weit hinter die Bojen. Ich wollte meine Angst spüren: Jetzt gehst du unter! Um mir dann sagen zu können: Na und? Ist trotzdem schön! Ich schwimme also Brust raus, Rücken  zurück. Und auf einmal denke ich: Was ist da an meinem Rücken? Was nagt und saugt da? Ich greife hinter mich und habe ein glitschiges Tier in der Hand. Ich schleudere es weg, es versinkt ein paar Meter neben mir im Wasser. Ich drehe mich vom Rücken auf die Brust und schwimme so schnell ich kann Richtung Strand. Aber das Tier kommt wieder, es greift mich an, versucht sich an meinem Beinen festzusaugen. In diesem Moment kommt die Panik: Ich ertrinke! Ich ertrinke! Aber ich schwimme trotzdem weiter. Als ich endlich Grund unter die Füße bekomme, denke ich: Jetzt hast du auch das noch überlebt!
Zu Hause habe ich erst mal ganz cool getan, aber meine Frau hat dann den Fischer von Niendorf angerufen und ihn gefragt, was das für ein Fisch gewesen sein könnte. Der sagte: Kann nur ein Neunauge gewesen sein! Wir haben so einen höchstens einmal im Jahr im Netz. Das ist wie ein Hauptgewinn im Lotto. Das Neunauge ist ein lebendes Fossil, seit 500 Millionen Jahren hat es sich kaum verändert. Und dem bin ich begegnet! Ich habe Erfurcht vor der Natur, jetzt noch mehr als zuvor.

Dass ich das Meer, überhaupt die Natur, wieder wahrnehmen kann, ist Teil meines langen Heilungsprozesses. Fast vierzig Jahre lang konnte ich das nicht. Das ich Angst vor dem Neunauge hatte, hat mir damals, im August 2009, gezeigt, dass ich nicht mehr eingekapselt bin. Ich kann heute darüber nachdenken, wie die Zeit vor dem Missbrauch war und was ich gefühlt habe. Und ich kann mich der Frage stellen: Wieso habe ich das alles mit mir machen lassen? Um diese Frage beantworten zu können, bin ich tief in meine Familiengeschichte eingetaucht. Das ich die Kraft dazu gefunden habe, verdanke ich einigen wenigen Menschen. Dazu gehören meine Frau und meine beiden Kindern, die immer zu mir gehalten haben – und ich verdanke diese Kraft auch dem Meer.
Hier brauche ich nicht der zu sein, von dem andere meinen, dass man dieser Mensch sein müsste. Am Meer bin ich ich selbst. Ich bin einfach nur da.

Aufgezeichnet von Britta Baas

Norbert Denef wurde vom 10. bis zum 16. Lebensjahr in seiner Heimatstadt Delitzsch von einem Priester und anschließend zwei weitere Jahre von einem Organisten missbraucht. Nach 35 Jahren brach er sein Schweigen und erhielt von der katholischen Kirche als erstes bekanntes Missbrauchsopfer in Deutschland eine Abfindung in Höhe von 25.000 Euro. Dafür sollte er nicht mehr öffentlich über den Missbrauch sprechen. Doch Denef machte seinen Fall in den Medien bekannt. 2007 schrieb er das Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“ im Starks-Sture-Verlag.
2010 gründete er das „netzwerkB“ für Betroffene von sexualisierte Gewalt.

Norbert Denef war mehrere Jahre Technischer Leiter im Stadtheater Rüsselheim. Er ist heute Sprecher des Netzwerkes Betroffener von sexualisierter Gewalt. Zusammen mit seiner Frau lebt er in Scharbeutz.

Quelle: Publik-Forum-EXTRA