SPIEGEL ONLINE 18.10.2011

Sexueller Kindesmissbrauch nimmt ab – scheinbar

Von Barbara Hans

Ist das die gute Nachricht des Tages? Die Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs sind in den vergangenen Jahren zurückgegangen – so das Fazit einer Studie im Auftrag der Bundesregierung. Doch die Ergebnisse scheinen zweifelhaft und Betroffene reagieren verärgert.

Hamburg – Es war einer der wenigen Sätze, die aus dem üblichen Talkshow-Gequatsche in Erinnerung blieben und – tatsächlich! – eine Diskussion über die Sendung hinaus entfachten. „Hätte ich eine Tochter, und sie würde vergewaltigt, ich würde ihr abraten, zur Polizei zu gehen.“

Das sagte der frühere Staatsanwalt Hansjürgen Karge im August vergangenen Jahres im Studio von „Anne Will“. Das Thema der Sendung war der Fall Kachelmann, und als Zuschauer dachte man sich: Wenn selbst einer wie Karge nicht davon überzeugt ist, dass eine Frau, die ein Sexualdelikt anzeigt, bestmöglich geschützt ist – wer soll es dann eigentlich noch sein?…

Protest Betroffener

Die Ergebnisse der Studie, die Ende 2013 komplett abgeschlossen sein wird, sollen dazu dienen, den Schutz der Betroffenen weiter auszubauen: durch Studien, Präventionsmaßnahmen, gezielte Programme. Doch wie aufschlussreich sind die Zahlen?

Betroffene weisen darauf hin, dass das Schweigen nach einem Missbrauch Jahre anhält, oft Jahrzehnte. Auch das sind die Lehren aus den Fällen, die im vergangenen Jahr an die Öffentlichkeit drangen. Auch die aktuelle Untersuchung zeigt, dass Opfer eines schweren Missbrauchs im Schnitt mehr als sechs Jahre warten, bis sie Anzeige erstatten – wenn sie es überhaupt wagen. Opfer von leichteren Fällen warten im Schnitt immer noch vier Jahre.

Wie verlässlich sind also die Angaben der Befragten? Kann man aus ihnen einen Rückschluss darauf ziehen, was sich vor allem hinter verschlossenen Wohnungstüren abspielt? Verbrechen, die von Tätern begangen werden, die den Opfern meist bekannt sind?

Betroffene reagieren verärgert auf die Studie. Der Vorsitzende des Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt, Norbert Denef, sagt, viele Opfer hätten den Missbrauch verdrängt und machten deshalb keine Angaben bei Befragungen. Zudem: Die Gruppen, die im vergangenen Jahr besonders im Fokus der Aufmerksamkeit standen, Katholiken und frühere Heimkinder, sind in der neuen Befragung unterrepräsentiert. Das räumen selbst die Forscher ein. Und die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christiane Bergmann, kritisiert, psychisch Kranke und Traumatisierte seien erst gar nicht befragt worden.

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