Offener Brief am 21. Oktober 2011
 an:

Deutscher Bundestag
 Rechtausschuss

zu Hd. Herrn Abg. Siegfried Kauder
Frau Abg. Ansgar Heveling
Frau Abg. Sonja Steffen
Herrn Abg. Christian Ahrendt
Herrn Abg. Jörn Wunderlich
Frau Abg. Ingrid Hönlinger

Platz der Republik
1
11011  Berlin

Per Telefax: 030/22736081

EILT!

Öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses vom 26.10.2011
BT-Drucksache 17/6261

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

erlauben Sie mir, dass ich als Rechtsberater und Prozessvertreter von Opfern sexueller Gewalt darauf aufmerksam mache, dass der Gesetzentwurf erheblichen rechtspolitischen Bedenken begegnet, soweit er die zivilrechtlichen Verjährungsfristen nur für die Zukunft und nicht rückwirkend verlängert:

1. Der Entwurf begründet dies mit dem Satz: „Die Erstreckung der Verlängerung von Verjährungsfristen auch auf bereits verjährte Ansprüche mit der Folge, dass die Anspruchsgegner die schon erworbenen Verjährungseinreden wieder verlören, verstieße gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot.“ (S.21 d.DrS.)

Dies trifft auch bei Berücksichtigung der gleichzeitig zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu. Das Gericht stellt in BVerfGE 101, 263 f. ausdrücklich fest, dass das Rückwirkungsverbot durchbrochen werden kann, „wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtsicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung von Namen erfordern.“

Die Verlängerung der Verjährungsfristen erfolgt nach dem vorliegenden Entwurf, weil die schwer traumatisierten Opfer sexueller Gewalt oft jahre- und jahrzehntelang nicht in der Lage sind, ihre Rechtsansprüche geltend zu machen. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, geht die Opferzahl vermutlich in die Tausende. Vielen entgeht eine angemessene Wiedergutmachung bisher nur deshalb, weil sich die Täter bzw. die Träger kirchlicher und staatlicher Einrichtungen, in denen die sexuelle Gewalt ausgeübt wurde, auf die Einrede der Verjährung berufen.

Wiedergutmachungsleistungen für die Opfer schwerster Verbrechen stellen durchaus einen „überragenden Belang des Gemeinwohls“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dar. Demgegenüber wirkt der Verlust „schon erworbener Verjährungseinreden“ der Täter bzw. der Kirche oder des Staates gering. Das Rechtsstaatsgebot verbietet im vorliegenden Fall die rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist also nicht.

2. Wenn der Gesetzgeber dennoch nur die jüngsten Opfer sexueller Gewalt durch eine Verlängerung der Verjährungsfrist schützt, nimmt er eine schwere Benachteiligung des größten Teils der Opfer in Kauf, die unter dem weit verbreiteten Zwangssystem der Heimerziehung früherer Jahre unsäglich gelitten haben. Dies dürfte auch bei Berücksichtigung des legislatorischen Ermessens mit Art.3 GG nicht vereinbar sein, da die Abwägung zwischen den Belangen der Opfer früherer Jahre und dem Interesse an erworbenen Verjährungseinreden festzuhalten, eindeutig zugunsten der Opfer ausgeht.

Als einer der Fürsprecher dieser Opfer möchte ich Sie deshalb höflich bitten, bei Ihren Beratungen des Gesetzentwurfs die vorliegenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen und ihnen möglichst Rechnung zu tragen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Christian Sailer

Quelle: http://www.kanzlei-sailer.de/schreiben-an-rechtsausschuss-211011.pdf