Aus: Sexuologie, 18 (2011) 3-4 (S. 193-200) (ISSN 0944-7105)

Missbrauchsopfer? – Selbst Schuld!


Zu Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie

von Klaus Schlagmann

Victim of abuse? – It’s your fault!

Om risks and side effects of psychotherapy

Abstract:
Some therapies for those who have experienced sexualized violence in childhood or youth lead to a sort of accusation of the victims. On the basis of case studies the suspicionb shall be formulated that this approach has deleterious effects. The origin of this approach is analyzed. It is shown that it exists still today. I want to campaign for a debate on this approach and for its firm repudiation.

Keywords:
Accusation of victims, sexualized violence, theory of trauma, theory of drive, Oedipus complex

Zusammenfassung:
Manche Therapie für diejenigen, die in Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben, mündet in eine Art Opfer-Beschuldigung. Anhand von Fallbeispielen soll der Verdacht formuliert werden, dass dieses Herangehen schädliche Wirkung entfaltet. Der Ursprung dieses Ansatzes wird erläutert. Hinweise auf sein Überleben bis in heutige Tage sollen belegt werden. Es wird für eine gründliche Auseinandersetzung mit diesem Ansatz und eine dezidierte Zurückweisung geworben.

Schlüsselwörter:
Opferbeschuldigung, Sexualisierte Gewalt, Trauma-Theorie, Trieb-Theorie, Ödipuskomplex

Fallbeispiele

Fallbeispiel 1

Eine 13-Jährige wird von 3 Mitschülern vergewaltigt. In der Familie wird ihr zwar das Geschehen geglaubt, es wird aber von der Mutter kommentiert mit: „Mit dir hat man ja nichts als Ärger!“ Sie spürt, dass die Mutter keine Unannehmlichkeit auf sich nehmen wird, um sie zu schützen. In der Kleinstadt gibt es nur ein Gymnasium; ein Schulwechsel würde Aufwand bedeuten. So nimmt sie die Sache selbst in die Hand. Sie wird so aufsässig, dass sie der Schule verwiesen wird – ein markanter Meilenstein in der Lebensgeschichte. Sie schützt sich auf diese Weise zwar vor dem weiteren Kontakt mit den Tätern. Aber die Erinnerung an die erlebte Gewalt begleitet sie noch über Jahre hinweg bis in ihre Träume hinein. Dann entschließt sie sich 2004 zu einer Therapie.

Der Therapeut erklärt ihr, dass er für das zeitaufwendige Erstellen des Antrags mehrere nicht gehaltene Therapie-Sitzungen auf die Private Rechnung setzen wird. (Der für die Antragstellung zu liquidierende Betrag sei nicht angemessen vergütet.) Nach dieser Vorarbeit erzählt sie von der Vergewaltigung. Seine Rückfrage: „Und? Warum haben Sie das nicht verhindert?“ Sie: „Wie meinen Sie das?“ Er: „Sie wissen schon, wie ich das meine!“

Sie geht kein weiteres Mal zu diesem „Therapeuten“, traut sich aber zunächst auch nicht, ihr Problem andernorts anzusprechen, leidet weiter unter Schlafstörungen, entwickelt Medikamentenmissbrauch, gerät – durch die illegale Beschaffung – am Ende in die Privatinsolvenz, aus der sie sich im Moment wieder herausarbeitet.

Fallbeispiel 2

Eine 13-jährige wird von einem 27-jährigen Mann an sich gepresst und in seinem ansonsten menschenleeren Büro gegen ihren Willen auf den Mund geküsst. Sie spürt den Druck des erigierten Penis an ihrem Körper. Da reißt sie sich los und rennt weg. Weil die Ehefrau des Mannes ein offensichtliches Verhältnis mit dem Vater des Mädchens unterhält, wird der fortgesetzte Übergriff durch die umstehenden Erwachsenen ignoriert. So auch, als der Mann zwei Jahre später der 15-Jährigen einen „Liebesantrag“ macht, den sie mit einer Ohrfeige quittiert. Sie erzählt es ein paar Tage später ihrer Mutter. Die Eltern stellen den Mann zur Rede, der alles abstreitet. Die Eltern glauben ihm. Im weiteren Verlauf wird die Jugendliche immer wieder sich selbst überlassen, gerät dabei in ihrer Verzweiflung an den Rand eines Suizids.

Mit 18 Jahren beginnt sie eine Therapie. Dort fühlt sie sich zunächst wohl, weil ihr geglaubt wird. Der Therapeut lässt sich detailliert die Übergriffe schildern und hört aufmerksam zu. Aber seine Bewertungen der Situationen wirken auf die Klientin – wie auch auf mich – äußerst seltsam. In seinem Therapiebericht heißt es: Dass sie als 13-Jährige sich aus der stürmischen Umarmung des Freundes ihres Vaters losreiße, zeige, dass sie hier bereits „ganz und voll hysterisch“ sei. „Anstatt einer genitalen Erregung, die bei einem gesunden Mädchen unter solchen Umständen gewiß nicht gefehlt hätte, stellte sich bei ihr … der Ekel [ein]“. Der Therapeut kennt zufällig den Freund des Vaters, den er – fast entschuldigend – so beschreibt: „ein noch jugendlicher Mann von einnehmendem Äußeren“. Als dürfe es keinen Grund geben, dass eine 13-Jährige vor den ungebetenen Küssen eines 27-jährigen verheirateten Mannes von „einnehmendem Äußeren“ Reißaus nimmt. Zu der Reaktion der 15-Jährigen auf den Liebesantrag heißt es: „Dass sie von dem Vorfall ihre Eltern in Kenntnis gesetzt hatte, legte ich so aus, dass sie dabei unter dem Einfluss krankhafter Rachsucht stand. Ein normales Mädchen wird, so meine ich, allein mit solchen Angelegenheiten fertig.“

Der Therapeut erkennt also „gesunde Mädchen“ daran, dass sie in der Situation eines sexualisierten Übergriffs ihre sexuelle Erregung genießen und die Situation vor ihren Eltern geheim halten. Der Therapeut sieht die eigentliche Ursache der psychischen Probleme der jungen Frau, wie er aus ihren Erzählungen und Träumen deutet, in einem starken Drang zu Homosexualität und Selbstbefriedigung, vor allem in inzestuösen Wünschen gegenüber ihrem Vater. Schließlich sei sie (unbewusst) auch in den Freund ihres Vaters verliebt, den sie – so die Unterstellung – ja doch am liebsten geheiratet hätte. Dass die Betroffene all diesen Unterstellungen widerspricht, zeige ihren Widerstand, womit sie beweise, dass der Therapeut genau ins Schwarze getroffen habe. Nach knapp 10 Wochen beendet die Betroffene von heute auf morgen – völlig zu Recht! – diese „Therapie“ – und ist wieder ganz sich selbst überlassen.

Fallbeispiel 3

Eine Grundschülerin von unter 10 Jahren wird von ihrem Vaters sexualisierter Gewalt ausgesetzt. In dem Therapiebericht heißt es, sie habe diese Situation „in typischer Weise … als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebt; sie müsse „ihre Schuld tolerieren“. Der „Erfolg“ der Behandlung: „Sie erlangte so die Fähigkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Haß gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden. Zum ersten Man in ihrem Leben war sie fähig, einen Orgasmus im sexuellen Verkehr mit ihrem sadistischen Freund zu erleben.“

Der Autor dieser Thesen erwartet auch ganz prinzipiell, dass Gewaltopfer – um Heilung zu erlangen – sich mit ihren Peinigern „identifizieren“ können. Um dies zu erleichtern, müssten auch Therapeuten in der Lage sein, sich „mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer  in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust eine Brandbombe zu werfen, die Lust, sadistische Aggressionen zu verspüren, denn die Bereitschaft dafür haben wir alle in unserem Unbewussten.“ Dagegen ist „Mitleid [mit den Klienten; K.S.] eine sublimierte Aggression“. Deshalb die Empfehlung für die Therapie: „Wir [Psychotherapeuten; K.S.] müssen daher versuchen … den Patienten, die uns fragen ‚Glauben Sie mir nicht? Sind Sie nicht meiner Meinung? War das nicht entsetzlich?’ zu erwidern: ‚Warum brauchen Sie meine Meinung, anstatt eine eigene zu haben?’“ In der (bis heute erhältlichen) Audio-Aufnahme des Vortrags mit diesen Thesen heißt es in Bezug auf die Patienten: „Wenn alles gut geht, dann gibt es Momente, in denen wir sie [die Patienten; K.S.] am liebsten aus dem Fenster werfen würden, besonders wenn unser Büro im 80. Stock liegt, und dann langsam und freudevoll lauschen, bis wir unten ein leises ‚Plopp’ hören.“ – Gelächter im Publikum – „Ich meine das ganz ernst!“ Das fürchte ich auch.

Fallbeispiel 4

Eine als Kind sexuell missbrauchte Frau mit Depressionen wird während der Behandlung in einer Klinik von ihrem Therapeuten sexuell missbraucht. Daraufhin bringt sie sich um. Ein Tagebuch, in dem sie den Missbrauch festgehalten hatte, gerät in die Hände einer Freundin. Diese zeigt daraufhin den Therapeuten und die Klinik an. Der Chef der Klinik äußert sich in einer späteren Publikation zu diesem Fall – nicht etwa unter der Rubrik „Schwere Therapeutenfehler“, sondern unter der Überschrift: „Transformation des Opfers in einen Täter“. Es wird dabei geschildert, wie die Patientin den Therapeuten verführte, der selbst an einer Störung gelitten habe. Dass sie in ihrer Verzweiflung über den erneuten Missbrauch sich umgebracht hatte, was dann – ohne, dass dies in ihrer Hand gelegen hätte, aber zweifellos völlig zu Recht! – zu einer Anklage geführt hatte, das wird als Aufhänger genommen, ihr die „Transformation in einen Täter“ anzudichten. Der abgedruckte Text wurde ursprünglich bei einer großen Psychotherapiefortbildung vorgetragen. (Auch hier ist die Audio-Aufnahme noch erhältlich.) Dort geht die Geschmacklosigkeit noch weiter: „Sie sehen, wie sie im Tode sich noch rr…[ächte?], wie sie Opfer und Täter zugleich wurde.“ Schamlos wird dem Opfer einer völlig verfehlten „Behandlung“ die Schuld in die Schuhe geschoben. Bei der Schilderung des Falles bringt der Referent sein Publikum zweimal zu heiterem Gelächter und am Ende – natürlich – zu begeistertem Applaus.

Opferbeschuldigung als Psychotherapiestrategie?

Um es in einem Vergleich zu sagen: Der Ansatz der vier geschilderten Fallbeispiele – bei den Opfern von Gewalt sich auf die Frage nach dem „eigenen Anteil“ zu konzentrieren – klingt für mich so, als ob die Polizei bei einem Verbrechen die Ermittlungen darauf konzentrieren würde herauszufinden, warum und mit welcher Absicht das Opfer am Tatort aufgetaucht war, darin den letzten Ursprung der Tathandlung zu sehen – und deshalb auch allein Anklage gegen das Opfer zu erheben.

Fallbeispiel 1 habe ich in meiner Praxis kennengelernt. Fallbeispiel 2 ist eine der Ursprungsgeschichten, aus der diese Art von Therapie insgesamt erwachsen ist: Die Analyse von Ida Bauer, die Sigmund Freud im Jahr 1900 vollzogen, 1905 als das „Bruchstück einer Hysterieanalyse“ publiziert hat. [2005 – zum 100-jährigen Bestehen der Abhandlung – wurde das ganze Heft des „Psychoanalytic Inquiry“ mit Beiträgen gefüllt, die allesamt – mit milde kritisierenden Anmerkungen – den großen Wert von Freuds Analyse betonen und sie inhaltlich bestätigen (Freud and Dora, 2005)]. Fallbeispiel 3 und Fallbeispiel 4 stammen vom Nachfolger auf Freuds Thron, dem Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) für die Amtsperiode von 1997-2001, Otto F. Kernberg (Kernberg, 1997 & 1999). Den Vortrag hat er 1997 bei einer der größten Psychotherapie-Fortbildungen im deutschsprachigen Raum vorgetragen, den Lindauer Psychotherapiewochen. Zwei Jahre später wurde er in einer von ihm mit herausgegebenen Zeitschrift (ganz leicht verändert) publiziert.

Wenn man diese – m.E. bizarren – Therapieansätze begreifen will, dann macht es Sinn, im wahrsten Sinne des Wortes „analytisch“ vorzugehen: „ana“ = u.a. „zurück, rückwärts“ und „lyein“ = „lösen“. Rückwärts gewandt möchte ich also versuchen, dieses Phänomen der Opferbeschuldigungs-Therapie – gerade in Fällen sexualisierter Gewalt – aufzulösen.

Die Psychoanalyse Josef Breuers

Biografisches zu Bertha Pappenheim (= „Anna O.“)

Bertha Pappenheim (Angaben hier nach Hirschmüller, 1978) wurde am 27.02.1859 als Kind sehr wohlhabender Eltern geboren. Die Eltern hatten 1848 geheiratet. Von den drei Geschwistern – Henriette (+10), Flora (+7) und Wilhelm (-1) – stirbt Flora bereits im Alter von zwei Jahren, fünf Jahre vor Berthas Geburt. Henriette stirbt mit achtzehn Jahren an der „galoppierenden Schwindsucht“ (Hirschmüller, 136) – als Bertha acht Jahre alt ist. Der einzige Sohn des Hauses hat eine bevorzugte Sonderstellung inne.

Berthas Vater (+35) ist ein sehr religiöser Mensch. Dem Vater zuliebe hält sich Bertha streng an die religiösen Vorschriften, denen sie selbst befremdet gegenübersteht. Die jüdische Religion verlangt beispielsweise die Unterweisung der Mädchen in genauen Küchenvorschriften (Speisegesetze, entsprechende Rezepte), ebenso die besondere Beachtung der Menstruationshygiene. Die Mutter (+29) wird als „tyrannisch“ und „sehr ernst“ geschildert; die Lustigkeit ihrer Tochter habe ihr nicht behagt.

Ab ihrem sechzehnten Lebensjahr wird Berthas Tätigkeit im Wesentlichen auf häusliche Dienste und stupide Geselligkeiten eingeengt. In späteren Jahren bedauert sie, dass sie an einem Mangel an „realistischer Bildung“ leide, und polemisiert heftig gegen das Leben einer Tochter aus höherem Stande (Hirschmüller, 137). Während sie selbst in ihrer geistigen Entwicklung gebremst wird, stehen ihrem um ein Jahr jüngeren Bruder alle Wege offen. Dieser darf sich auch der Schwester gegenüber ungestraft tyrannisch und gewalttätig verhalten. Eigene Aggressionen, wie auch erotische Wünsche, muss Bertha als junge Frau generell unterdrücken. Zeitweilig ist ihre Tätigkeit in starkem Maß auf die Pflege ihres schwer erkrankten Vaters beschränkt. Vor allem in dieser Zeit wird ihr die Lust an Theater, Tanz und Spaß systematisch verdorben. Schließlich wird sie sogar von der Mutter über den drastisch verschlechterten Gesundheitszustand des Vaters belogen und um den Abschied von ihm am Totenbett regelrecht betrogen.

Vorweggenommen sei, dass Bertha Pappenheim in ihrem späteren Leben – sicherlich aufgrund der einfühlsamen Therapie von Josef Breuer – eine herausragend engagierte Kämpferin für die Rechte von Frauen und mutige Beschützerin von Opfern des Mädchenhandels gewesen ist.

Berthas Symptome und ihre Ätiologie

Die permanente Einengung, Unterdrückung, Missachtung und Entwertung führen bei Bertha zu einer Fülle psychosomatischer Reaktionen – die im damaligen Sprachgebrauch „Hysterie“ genannt werden. Der 1880 erstmals hinzugerufene Arzt Josef Breuer beschäftigt sich intensiv und einfühlsam mit der 21-jährigen Frau. Für ihn haben die genannten Lebensbedingungen „traumatischen“ Charakter. Sie überfordern Bertha, führen bei ihr zu nachhaltiger Verwirrung und innerer Anspannung. Sie wird hin und her gerissen zwischen den einerseits in sich verspürten gesunden Impulsen nach Bildung, Selbstbehauptung, Lebensfreude und Offenheit beziehungsweise Gegenwehr gegen ihre Unterdrückung und Entwertung, und den andererseits an sie gerichteten Erwartungen, sich wie eine wohl erzogene junge Frau jüdischen Glaubens zu benehmen. In diesen Momenten unerträglichen inneren Zwiespalts gewöhnt sie sich an, Tagträume zu entwickeln, ihr „Privattheater“ aufzusuchen, wie sie es nennt – also gewissermaßen geistig die Flucht anzutreten. Es ist eine Art Trance-Zustand, von Breuer auch Hypnoid-Zustand genannt, weil mit der Situation einer hypnotisierten Person vergleichbar. In Trance lassen sich die realen, kränkenden Szenen ausblenden – so, wie sich unter Hypnose zum Beispiel Schmerzen bei einer Zahnbehandlung kontrollieren lassen.

Allerdings ergibt sich aus dieser Trance eventuell auch ein Problem: Seelische oder körperliche Symptome, die in solchen Situationen vorhanden sind, können mit einzelnen Elementen der Situation hartnäckig verbunden bleiben. Berühmt ist das Beispiel, dass Bertha in der Nachtwache bei ihrem Vater eingeschlafen ist, sie im Halbschlaf in einem Schatten eine Schlange imaginiert, die den Vater bedroht, und als sie diese abzuwehren versucht, den Arm nicht bewegen kann, der durch eine Drucklähmung unbeweglich geworden war. Seither lösen schlangenähnliche Gegenstände wie z.B. Schnüre (konditionierter Reiz) eine Lähmung des Armes (konditionierte Reaktion) aus.

Wenn Bertha also durch entsprechende Hinweisreize an eine problematische Situation erinnert wird, treten dann auch automatisch – wie im Reflex – die mit der Situation verbundenen Symptome wieder auf. Die Symptome schaffen eine Möglichkeit, die Spannung abzuführen, die in der Ursprungssituation entstanden ist. Entstanden ist diese Spannung, weil die für die Situation eigentlich angemessenen Gefühle nicht ausgedrückt werden konnten. (In der Situation der Nachtwache war sie im Zustand des Halbschlafes nicht fähig, irgendein Wort hervorzubringen, um ihrer Angst Ausdruck zu geben.) albschlafes HaHBei einem Hinweisreiz auf die Ursprungssituation wird – statt des eigentlich angemessenen Gefühls, das weiter unausgelebt bleibt – die konditionierte psychische bzw. psychosomatische (= „hysterische“) Reaktion ausgelöst. Breuer beschreibt hier einen Mechanismus, den später Pawlow an Hunden beobachtet und als ‚klassisches Konditionieren’ bekannt gemacht hat.

Breuers Therapie – und „König Ödipus“

Breuer hilft seiner Patientin, sich unter Hypnose die einzelnen traumatisch erlebten Situationen erneut bewusst zu machen. Ihre Empfindungen bringt sie zunächst in Trance, beim Erzählen von selbst erfundenen Geschichten zum Ausdruck, benennt dabei offen die mit den traumatischen Situationen verbundenen Gefühle. „Katharsis“ – ein von Aristoteles in die Theorie über die Wirkung der Tragödie eingeführtzes Konzept, das den erleichternden Ausdruck von Gefühlen meint – ist der von Breuer gewählte Begriff für diesen Ansatz.

Es ist auch Breuer selbst, der dieses Verfahren „Psychoanalyse“ nennt – unter Rückgriff auf die o.g. Wortbedeutung von „analysieren“ = „rückwärts gewandt auflösen“. Er lehnt sich dabei an das Drama „König Ödipus“ von Sophokles an: Schiller bezeichnet das Stück ca. 100 Jahre zuvor in einem Brief an Goethe als „tragische Analysis“. Das Stück bietet tatsächlich ein Musterbeispiel für eine rückschauende Auflösung: Um die rätselhafte Pest in Theben zu überwinden, muss Ödipus die Wahrheit über den Tod seines Vorgängers ans Licht bringen. Er entdeckt dabei am Ende des Stückes letztlich sein eigenes Trauma, seine brutale Aussetzung mit durchstochenen Fersen. Der Clou der Geschichte: Ödipus ist zuvor über den Urheber der Tat belogen worden. Seine Gattin (die auch seine Mutter ist) hatte zuerst davon gesprochen, dass ihr erster Mann ein Kind – nämlich Ödipus – auf diese Weise hatte weggeben lassen. Am Ende – als Ödipus zu seinem Entsetzen aufgeklärt ist, dass er selbst dieses misshandelte und ausgesetzte Kind ist – berichtet ein neutraler Kronzeuge, dass Iokaste selbst für die Misshandlung und Aussetzung des Kindes verantwortlich war (in Kurzform: Schlagmann, 2010; ausführlich: Schlagmann, 2005). Damit enträtselt Ödipus zugleich die Verantwortung seiner Mutter (und Gattin) Iokaste für den Tod seines Vaters: Weil sie durch die Aussetzung Sohn und Vater einander entfremdet hatte, konnte es überhaupt erst zu dem späteren tödlichen Vater-Sohn-Konflikt kommen, bei dem sich Ödipus in Notwehr geschützt hatte. Iokaste entzieht sich der Todesstrafe, die das Orakel gefordert hatte, durch Suizid. Ödipus hätte seine Mutter eigenhändig umgebracht, wäre sie ihm nicht zuvorgekommen. Er gerät nun in einen (vorübergehenden) Zustand von Verwirrung und beschuldigt sich (zu Unrecht) selbst der Tat.

Die Schilderung der sensiblen und klugen Behandlung Bertha Pappenheims (unter dem Pseudonym „Anna O.“), bei der Breuer gemeinsam mit seiner Patientin – wie Ödipus – aus der Rückschau die Wahrheitsfindung betreibt und damit die Heilung der Patientin bewirkt. bildet den Mittelpunkt der mit Freud publizierten „Studien über Hysterie“ (1895).

Freuds Betrug

Die Freundschaft mit Wilhelm Fließ

Der Professor für Psychoanalytische Studien am California Institute of Technology bzw. der Gründungs-Präsident des Institute of Contemporary Psychoanalysis, Louis Breger (2009), legt dar, dass Sigmund Freud seinen Mentor Josef Breuer betrügt. Dieser Betrug werde offensichtlich in der gemeinsamen Publikation der „Studien über Hysterie“ von 1895, er beginnt jedoch schon zwei bis drei Jahre zuvor. Freud ist zunächst noch ganz an Breuers Modell angelehnt und spürt bei seinen Klienten Traumatisierungen auf. Unter Einbezug aller Fall-Skizzen in den „Studien“ ist bei den insgesamt sechzehn Fällen durchaus sexualisierte Gewalt beschrieben, jedoch liegt in keinem Fall ein Konflikt zwischen einem sexuellen Bedürfnis und dessen Bewusst-Werden vor. Stattdessen treten jeweils Erfahrungen von Traumatisierung, Unterdrückung, Überforderung und Verlust überdeutlich zu Tage. Trotzdem konzentriert sich Freud auf einen sexuellen Konflikt und dessen angeblicher Verdrängung.

Breger sucht die Erklärung für diese Entwicklung bei Wilhelm Fließ, der sich mit kurzlebigen, abenteuerlichen Theorien zu Wort gemeldet hat. Fließ behauptet z.B. einen engen Zusammenhang zwischen Nase und Geschlechtsorgan. Und er postuliert weibliche und männliche Perioden (von 28 bzw. 23 Tagen) als Erklärung für diverse Lebensereignisse. Fließ sei einer der typischen medizinischen Quacksalber, die – aus Bedürfnis nach Ruhm – totalistische Theorien und Behandlungsmethoden kreieren. Freud nimmt den Verfasser des „mysthischen Unsinns“ gegen Kritik in Schutz. Fließ ist der zentrale Partner, mit dem Freud sich brieflich zur Entwicklung seiner „Psychoanalyse“ austauscht; der „theoretischen Imperialismus“ von Fließ habe ihn wohl mehr angesprochen, als der bescheidene Breuer, habe seine Hoffnungen auf grandiose Leistungen beflügelt. Mit Fließ, der sehr fixiert scheint auf sexuelle Themen, intensiviert Freud ab 1892 seinen Austausch, geht zu einem vertrauten „Du“ über, und entwickelt zusammen mit ihm zunehmend seltsame Vorstellungen vom Wirken sexueller Impulse (Masson, 1986). Beide Kollegen betreiben über Jahre hinweg eine Kokainisierung der Nase, was ihnen jeweils zu ganz besonderer Leistungsfähigkeit verhilft.

Sexualität – die Ursache allen Übels

Freud plädiert in dem von ihm verfassten Schlusskapitel der „Studien“ (1895) – grob verallgemeinernd – einzig und allein die Erfahrung sexualisierter Gewalt in der Kindheit als Auslöser der sog. „Hysterie“ an. Einige Monate lang – von Ende 1896 bis September 1897 – konzentriert er sich sogar einzig und allein auf eine väterliche Vergewaltigung als Ursprung jeder „Hysterie“. Man stelle sich vor: Jeden psychosomatischen Kopf- oder Magenschmerz, jeden Anfall von Herzrasen führt Freud – auch bei sich selbst und bei seinen Geschwistern – pauschal auf eine Vergewaltigung durch den Vater im Alter von 2-8 Jahren zurück, sofern sie verdrängt ist. („Leider ist mein eigener Vater einer von den Perversen gewesen[…]“ – textet er in einem Brief an Fließ am 8. Februar 1897, ca. 4 Monate nach dem Tod des Vaters; vgl. Masson, 1986, 245.) Seine „Therapie“ läuft darauf hinaus, die Betroffenen zum Bekennen dieser Vorgänge zu drängen.

Dann beschleichen ihn aber selbst Zweifel, auch manche Patienten machen diese Prozedur nicht mit, und er behauptet – was m.E. natürlich noch viel weniger der Wahrheit entspricht – ab September 1897 geradezu das Gegenteil (Schlagmann, 2005, 466 ff): Verdrängte „Perversionskeime“ seien (bei seinen Patienten, wie bei ihm selbst) für hysterische Symptome verantwortlich. An vorderster Stelle der angebliche Inzestwunsch gegenüber den Eltern, der berühmte Ödipuskomplex.
Eigentlich müsste er ab dieser Zeit seiner eigenen früheren Position vehement widersprechen. Tut er aber nicht. Im „Bruchstück einer Hysterieanalyse“ (1905) behauptet er eine Kontinuität seiner Gedankengänge über die Jahre hinweg. Ja, es geht immer um Sexualität. Ja, es geht immer um Vorgänge aus der Zeit zwischen dem 2. und dem 8. Lebensjahr. Ja es geht immer um inzestuöse Szenen. Ja, es kommt nur zu psychosomatischen Reaktionen, sofern diese Ereignisse sich im Zustand der Verdrängung befinden. Nur eine kleine, winzige Änderung: Nein, die Szenen haben nicht real stattgefunden, sondern nur in der Phantasie der Betroffenen.  Ab diesem Zeitpunkt will Freud in seiner Therapie nicht mehr die Erfahrung von sexualisierter Gewalt geschildert bekommen, sondern er drängt die Betroffenen – wie bei Ida Bauer (Fallbeispiel 2) – ihre sexuellen „Perversionen“ zu bekennen. Neben den inzestuösen bzw. mörderischen Strebungen gegenüber den Eltern zählen zu den erwarteten Standard-Perversionen die Homosexualität und die Masturbation.

Anstatt, wie Breuer, Verständnis für die reale Not seiner Patienten zu haben, beschuldigt Freud sie von nun an frühkindlicher, angeblich „unbewusster“ Triebe. Den Begriff „Psychoanalyse“ behält er für diese Prozedur bei. Den zuvor noch als „Trauma“ gewerteten sexuellen Missbrauch verharmlost er fortan als „Verführung“. (Die angeborene Perversionsneigung bedarf ja nur einer kleinen „Verführung“, u,m manifest zu werden.)

Die „sexuelle Ätiologie“ dehnt Freud auf alle Neurosen aus (1898/1952, 491): „Durch eingehende Untersuchungen bin ich in den letzten Jahren zur Erkenntnis gelangt, dass Momente aus dem Sexualleben die nächsten und praktisch bedeutsamsten Ursachen eines jeden Falles von neurotischer Erkrankung darstellen.“ Eventuell werden die Standard-Deutungen von Homosexualität, Masturbation und Inzest erweitert durch Verweise auf Sadismus und Masochismus, Exhibitionismus und Voyeurismus, Analität oder enuretische Kondition, Coitus interrruptus oder Ejaculatio praecox. Selbst das Benützen von Kondomen scheint nach Freud (im Jahr 1893) Neurosen zu fördern (Masson, 1986, 29 f). Und es wird „von stark [zur Neurasthenie; K.S.] Disponierten oder fortdauernd Neurasthenischen […] bereits der normale Koitus nicht vertragen.“ Also führt Sex in jeder Form zu irgendeiner Störung. Am 01. Juni 1910 gibt Freud in einer Debatte der Mittwoch-Gesellschaft (Nunberg u.a., 1977, 519) zum Besten: Sexualität gehöre „zu den gefährlichsten Betätigungen des Individuums“.

Eine Kette von Wirklichkeitsverkennungen

Diese Position reiht sich ein in eine ganze Reihe merkwürdiger Realitätsverkennungen bei Freud. Nicht nur Neurosen, sondern auch Verbrecher oder bestimmte BErufe, Künstler und Kunstwerke werden – ziemlich pauschal und wenig tiefgehend – jeweils mit (unterstellten) sexuellen Besonderheiten in Verbindung gebracht. Das ausführlichste Beispiel Freuds in Bezug auf Literatur: In drei Briefen an Wilhelm Jensen bittet Freud – nach Publikation seiner Abhandlung über dessen Novelle „Gradiva“ (Freud, 1907/1912) – den Dichter um die Gnade, Auskünfte über den Hintergrund seines Schreibens und sein Privatleben zu bekommen. Freuds Briefe wurden erst kürzlich von den Erben entdeckt und mir zur Publikation anvertraut (Schlagmann, i.V.). Jensen gibt bereitwillig Auskunft. Freuds Hirngespinst, der Dichter sei wohl in eine Schwester verliebt gewesen, die mit einem Spitzfuß körperlich behindert gewesen sei, sackt in sich zusammen: Der uneheliche, als 3-Jähriger an eine kinderlose, unverheiratete Pflegemutter übergebene Jensen hatte keine Blutsverwandte um sich. Über deren mutmaßliche Gehbehinderung lässt er sich also nicht weiter aus. Freud ist daraufhin beleidigt. In einem Brief an C.G. Jung klagt er, dass Jensen nichts zur Hauptfrage – der Gehbehinderung – gesagt habe (McGuire u.a., 1974, 116). Und er unterstellt dem Dichter – ein Jahr nach seinem Tod – in der zweiten Auflage seiner Abhandlung, er habe die Mitwirkung an der psychoanalytischen Deutung seiner Novelle versagt (Freud, 1912, 86). In meinem o.g. Beitrag (i.V.) habe ich eine ganze Kette weiterer Wirklichkeitsverkennungen Freuds skizziert.

Emma Eckstein

Ein weiteres Beispiel sei hier kurz angeführt: Freud weiß (Freud, 1905/1993, 78): „Es ist bekannt, wie häufig Magenschmerzen gerade bei Masturbanten auftreten.“ So sieht es auch sein Freund Wilhelm Fließ (Fließ 1902, zit. n. Masson, 1995, 117 f): „Von den Schmerzen ex onanismo möchte ich einen wegen seiner Wichtigkeit besonders hervorheben: den neuralgischen Magenschmerz.“ Nach Fließ hängt die Nase eng mit dem Geschlechtsorgan zusammen; Masturbation habe „eine sehr charakteristische Schwellung und neuralgische Empfindlichkeit der nasalen Genitalstelle“ zur Folge. Sein Rezept bei Magenschmerzen: „Exstirpiert man gründlich diese Partie der linken mittleren [Nasen‑]Muschel, was leicht mit einer geeigneten Knochenzange ausgeführt wird, so schafft man den Magenschmerz dauernd fort.“ Bei Emma Eckstein, die Freud als Patientin mit Magenschmerzen im Jahr 1895 an Fließ vermittelt, verletzt Fließ bei seiner „Operation“ ein größeres Gefäß. Wohl aus Schreck über das angerichtete Unheil, verstopft er die Wunde notdürftig mit Gaze und reist nach Berlin ab. Emma Eckstein steht für Wochen auf der Kippe zwischen Leben und Tod, als ein Arzt die zunächst unentdeckte Gaze aus der eiternden Wunde entfernt und die Blutung immer wieder aufbricht. Ihr muss am Ende ein Teil des Gesichtsknochens weggemeißelt werden, um die Blutung stoppen zu können (Masson, 1995, 111). Freud dagegen: „Eine Entstellung bleibt ihr natürlich erspart.“ (Masson, 1986, 122) Freud beruhigt über fast zwei Jahre hinweg seinen Freund, die Blutungen seien „hysterische“ gewesen, „wahrscheinlich zu Sexualterminen“ (ebd., 193). „[D]aß es Wunschblutungen waren, ist unzweifelhaft“ (ebd., 202) (4. Juni 1896). Freud lernt in diesem Fall, wie leicht es ist, der Phantasie eines Betroffenen die Verantwortung für ein verletzendes Geschehen zuzuschreiben.

Unwahre Phantasie vs. verdrängte Wahrheit

In Freuds Vorstellung geht es reichlich paradox zu. Sofern Menschen ihm nach dem September 1897 Erinnerungen an reale Gewalterfahrungen schildern, geht er davon aus, dass die Erinnerungen eigentlich nur der Phantasie, dem Wunsch der Betroffenen entsprungen sein können. Wenn die Betroffenen dann jedoch bestreiten, dass sie die eine oder andere „perverse“ Phantasie in sich verspürt haben, dann wird argumentiert, hier werde etwas verdrängt. Die erinnerte Realität ist also unwahre Phantasie, die nicht erinnerte Phantasie ist verdrängte Realität. Dieses merkwürdige Verwirrspiel setzt sich fort bis in die heutigen Tage.

Eine Studie aus neuerer Zeit

Im Jahr 1999 hatte ich an einer Delphi-Studie der Universität Saarbrücken zum Thema „Trauma und Erinnerung“ teilgenommen, ein DFG-Projekt unter der Leitung von Prof. Krause; Anke Kirsch hat mit der Durchführung der Studie ihre Dissertation abgelegt. „Experten“ (91 überwiegend psychologische oder ärztliche Psychotherapeuten der unterschiedlichsten Therapierichtungen) sollten berichten, wie sie die Erzählung Betroffener von (angeblichem) sexuellen Missbrauch als Phantasie erkennen. Hier einige Ergebnisse (Kirsch, 1999 a, 31):

„Die folgenden Statements beziehen sich auf Kriterien, die von Ther. als Hinweise für retrospektive Phantasien angesehen werden. Die Statements waren nach dem Ausmaß der Zustimmung zu gewichten.  …

20.4: Die Schuldfrage wird eher externalisiert und bei dem/der Täter/in gesucht.

04,7 % stimme gar nicht zu   29,7% stimme überwiegend nicht zu   51,6% stimme im wesentlichen zu 14,1% stimme völlig zu

20.5 Die Pat. gehen mit einer größeren Überzeugung und Sicherheit davon aus, dass eine sexuelle Traumatisierung stattgefunden haben müßte.

04,9 % stimme gar nicht zu   31,1% stimme überwiegend nicht zu   50,8% stimme im wesentlichen zu    13,1% stimme völlig zu“

65,7 % bzw. 63,9 % der 91 „Experten“ ordnen die ihnen geschilderten Traumatisierungen eher einer „retrospektiven Phantasie“ zu, weil die Betroffenen dies ohne eigenes Schuldbewusstsein und mit sicherer Erinnerung berichten. Nur winzige 4,7 % bzw. 4,9 % lehnen eine solche Schussfolgerung deutlich und entschieden ab.

Zu einigen der zweigeteilten Statements konnte ich keine eindeutige Antwort ankreuzen, z.B. zu Frage 2.5 (a.a.O., 13): „Aufgabe der Psychotherapie ist nicht nur zu schauen, wie ist das erlebt worden und was haben die Pat. für Phantasien dazu, sondern auch zu schauen, was hat das für einen Realitätsgehalt.“ Es ist m.E. für die Therapie von Opfern sexualisierter Gewalt ziemlich irrelevant, wenn nicht gar schädlich, Betroffene zu fragen, was für „Phantasien“ ihnen zu dieser Situation durch den Kopf gingen. Diesem Teil des Statements stimme ich überhaupt nicht zu. Dem anderen Teil dagegen, „zu schauen, was hat das für einen Realitätsgehalt“, stimme ich vollkommen zu, denn es zeugt von einem Interesse an der Wirklichkeit der Betroffenen. Oder bei Frage 2.7 (ebd.): „Zwar spielen in der Psychotherapie die Phantasien eine ganz wichtige Rolle, aber für das Gelingen einer Therapie ist auch die Rekonstruktion der Wahrheit wichtig.“ Dass „die Phantasien“ (offenbar im Sinne von Einbildungen) in der Psychotherapie von Opfern sexualisierter Gewalt eine wichtige Rolle spielen, dem stimme ich überhaupt nicht zu. Dass die Rekonstruktion der Wahrheit wichtig ist, halte ich dagegen für ein zentrales Moment der Therapie.

Bei der Studie wurden drei Antworten ausgeschlossen. Meine Antwort gehörte offenbar dazu, denn kein einziges Statement der Studie wird zu weniger als 100% beantwortet. Auf meine Anfrage, was mit meinem Beitrag zur „Studie“ geschehen sei, bekam ich von Anke Kirsch nur eine ausweichende Antwort.

Es wird durch die „Studie“ also mit manipulativen Fragen das Bild einer Wirklichkeit zurechtgezwängt, das dem alten Vorurteil Freuds weiter Rechnung trägt. Wenn Gewaltopfer nicht bei sich selbst die Schuld suchen, dann machen sie sich verdächtig zu phantasieren. Ebenso, wenn sie sich klar ihrer Geschichte erinnern.

Kirsch steuert übrigens für dasselbe Heft, in dem Herr Kernberg 1999 seine Thesen publiziert, einen Artikel bei (1999 b). Ebenso getan hat das ihr Doktorvater Krause, der Kernberg als seinen Freund bezeichnet, und der – umgekehrt – von Kernberg in der Audio-Fassung seines Vortrags namentlich begrüßt wird. Die beiden Saarbrücker Autoren lassen ihre Zweifel an dem Wert der Erinnerungen Betroffener zum Ausdruck kommen.

Damit feiert die Freudsche Haltung eine Bekräftigung: Zunächst einmal werden berichtete Traumatisierungen bezweifelt. Dann, wenn sie nicht mehr von der Hand zu weisen sind, wird behauptet, die Betroffenen hätten vor allem deswegen eine Störung davon getragen, weil ihre eigenen perversen Impulse wachgerufen worden seien.

An verschiedenen Stellen habe ich innerhalb meiner Fachgruppe versucht, eine Diskussion über z.B. Kernbergs Thesen zu initiieren (Schlagmann, 2007, 2009; Webseite http://www.oedipus-online.de). Die Heftigkeit und die starke Emotionalität, mit der dieses Ansinnen z.T. zurückgewiesen wird, sind wohl bezeichnend.

Missbrauchsopfer sind Lügner

Noch in jüngster Zeit gibt es fatale Aussagen zur Lügenhaftigkeit von Opfern sexualisierter Gewalt. So antwortet Jörg Fegert in einem Interview (für die Jugendseite der Südwest Presse,  Ausgabe vom 02.11.2010) auf die Frage: „Wann wird Lügen krankhaft?“: „Es gibt Menschen, die fast in jeder Lebenssituation lügen. Sie haben häufig jahrelange Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erlebt und mussten lügen und vertuschen. Wenn wir solche Kinder oder Jugendliche auf Station haben, erwecken sie erst ein enormes Mitleid in der Gruppe, dann spaltet sich die Stimmung aber und am Schluss mag sie keiner. Hinzu kommt, dass man ihnen auch tatsächliche Erlebnisse nicht mehr glaubt.“ Auf den heftigen Protest von Betroffenen revidierte Fegert seine Aussage und entschuldigte sich damit, dass er ursprünglich an das „seltene Krankheitsbild der Pseudologia Phantastica“ gedacht habe; „Patientinnen und Patienten mit dieser Störung … [sind] eben nicht primär narzisstische Aufschneider, sondern in den Fällen, die ich behandelt habe, Kinder, welche reale Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen über Jahre hatten, aber auch von ihrem Umfeld immer wieder zu Ausreden und Lügen angehalten wurden, und die dann eine solche Störung entwickelt hatten, die dazu führte, dass niemand ihnen Glauben schenkt. Da dieses Krankheitsbild eine spezielle Störung ist, die nur sehr wenige Menschen aufweisen, steht sie mit der Vielzahl der Missbrauchsopfer nicht in Zusammenhang.“

Ein Spezialist für „Pseudologia Phantastica“ bin ich nicht. Bei einem kurzen Stöbern im Internet habe ich jedoch bei diversen Fachbeiträgen immer nur eines gefunden: Die Ätiologie dieser Störung sei völlig unklar. Insofern hat Fegert also entweder eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, oder aber das Ausweichen auf ein sehr spezielles Gebiet soll dazu dienen, den argumentativen Skandal abzubiegen und die Verfolger abzuschütteln. Mir scheint das Letztere der Fall zu sein.

Gerade weil es – wie hier dargestellt – eine unrühmliche Tradition in der Psychotherapie-Szene gibt, die Opfer von sexualisierter Gewalt nicht ernst zu nehmen, sondern sie selbst wiederum zu Tätern zu erklären, ist m.E. Fegerts Darstellung völlig unakzeptabel. Er hat sich damit in meinen Augen unglaubwürdig gemacht. Da er als „Experte“ auch dem „runden Tisch – sexueller Kindesmissbrauch“ angehört, hat er m.E. auch der Glaubwürdigkeit dieses ganzen Gremiums geschadet.

Aus Fehlern wird man klug. Manchmal dauert es (leider) etwas länger, bis sich die problematischen Auswirkungen von bestimmten Gepflogenheiten deutlich zeigen. Erst dann besteht die Chance, sie ausgiebig zu diskutieren und zu bearbeiten. Im Zuge der jüngeren Missbrauchsdebatte kamen Kirchen und Reformpädagogik im Hinblick auf den Schutz Jugendlicher vor sexualisierter Gewalt auf den Prüfstand. Im Umkreis dieser Debatte ist es m.E. wünschenswert, dass sich auch die Psychotherapie-Szene an eine längst überfällige Aufarbeitung ihrer Schattenseiten macht, die sich gerade im Umgang mit den Opfern sexualisierter Gewalt zeigen.
Bisweilen passieren auf dieser Welt Dinge, bei denen man sich kaum vorstellen mag, dass sie sich tatsächlich so zugetragen haben. Und leider ist es oft dazu noch allzu schwer, selbst im Nachhinein offen darüber zu diskutieren. Vielleicht vermag ja dieses Heft der Sexuologie einen weiteren Anstoß zu einer konstruktiven Auseinadersetzung zu leisten.

Literatur:
Breger, Louis (2009): A dream of undying fame. How Freud betrayed his mentor an invented psychoanalysis. Basic Books, New York
Breuer, Josef & Sigmund Freud (1895/1991): Studien über Hysterie. Fischer TB, Frankfurt a.M.
Freud, Sigmund (1898/1952): Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. In: GW, Bd. 1, 491-516
Freud, Sigmund (1905/1993). Bruchstück eine Hysterieanalyse. Fischer TB, Frankfurt a.M.
Freud, Sigmund (1907/19122): Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva’. Franz Deuticke, Leipzig u.a.
Hirschmüller, Albrecht (1978): Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Josef Breuers. Dissertation. Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 4, Verlag Hans Huber, Bern u.a.
Israëls, Haen (1999): Der Fall Freud. Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge. Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, Hamburg
Kernberg, OF (1997). Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. Audio-Aufzeichnugn des Vortrags, gehalten bei den Lindauer Psychotherapiewochen, Auditorium Netzwerk, Müllheim
Kernberg, OF (1999). Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie. Jg. 3, 1: 5-15
Kirsch, Anke (1999 a): Arbeiten der Fachrichtung Psychologie des Saarlandes: Nr. 190. Erste Ergebnisse eines Expertendelphis zum Thema „Trauma und Erinnerung“. Saarbrücken
Kirsch, Anke (1999 b): Trauma und Wirklichkeits(re)konstruktion: Theoretische Überlegungen zu dem Phänomen wiederauftauchender Erinnerungen“ in: In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie. Jg. 3, 1: 45-54
Masson, Jeffrey Moussaieff (Hg.) (1986): Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. S. Fischer, Frankfurt a. M.
Masson, Jeffrey Moussaieff (1995): Was hat man dir, du armes Kind getan? Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte. Kore Verlag, Freiburg
McGuire, William & Wolfgang Sauerländer (Hg.) (1974): Sigmund Freud – C. G. Jung. Briefwechsel. S. Fischer, Frankfurt a. M.
Nunberg, Hermann & Federn, Ernst (Hg.) (1977): Protokolle der Wiener Psychoanaltischen Vereinigung. Band III (1910-1911). S. Fischer, Frankfurt a.M.
Psychoanalytic Inquiry (2005): Freud and Dora – 100 years later. Sonderheft mit diversen Beiträgen zu Freuds Abhandlung “Bruchstück einer Hysterieanalyse”, 1905.
Schlagmann, Klaus (2005): Ödipus – komplex betrachtet. Männliche Unterdrückung und ihre Vergeltung durch weibliche Intrige als zentraler Menschheitskonflikt. Saarbrücken, Verlag Der Stammbaum und die 7 Zweige, 2005
Schlagmann, Klaus (2007): Sexueller Missbrauch. Opferbeschuldigung als Psychotherapiestrategie? In: psychoneuro, 9/2007, S. 361-365
Schlagmann, Klaus (2009): Ein markanter Freudscher Flüchtigkeitsfehler. Plädoyer für die Revision von Freuds Verwerfung der Trauma-Perspektive. In: Psychodynamische Psychotherapie (PDP), 8/2009, 67-77.
Schlagmann, Klaus (2010): Ödipus – komplex betrachtet. In: Programmheft zu Bodo Wartkes Solo-Kabarett „König Ödipus“, 33-54. Reimkultur, Musikverlag
Schlagmann, Klaus (i.V.): Die Deutung des Wahns oder der Wahn der Deutung? Sigmund Freuds bislang unveröffentlichte Briefe an Wilhelm Jensen und die Lebenswirklichkeit des Autors der ‚Gradiva’. Zum 100. Todestag von Wilhelm Jensen (24.11.1911). In: Integrative Therapie IV, 2011.

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