Stand: 24. Januar 2012 (als PDF herunter laden)

Immer wieder taucht im Zusammenhang mit der Aufarbeitung und Heilung von traumatischen Kindheitserlebnissen das Stichwort „dem Täter vergeben“ auf.

Es ist Zeit, mit verschiedenen Mythen aufzuräumen, die sich darum ranken.

Mythos 1

Vergebung/Verzeihung/Versöhnung gegenüber dem/der Täter_in bewirke eine Heilung bei erwachsenen Betroffenen von Gewalt in der Kindheit.

Viele Psychotherapierichtungen und leider auch einige Traumatherapierichtungen sehen es als krönenden Abschluss einer gelungenen Therapie an, wenn der/die Betroffene dem/der Täter_in vergibt. Oft wird auch von „Frieden schließen“ gesprochen. Doch was bedeutet diese Vergebung für die Betroffenen?

Aus Sicht des misshandelten Kindes im Erwachsenen bedeutet es, dass das Kind, das gerade zu reden begonnen hat wieder schweigen soll. Das ist besonders bei innerfamiliärer Gewalt verheerend, da nach Vergebung oft wieder, bzw. weiterhin Täterkontakt stattfindet, der erneut traumatisiert.

Aus Sicht der erwachsenen Betroffenen kann eine Vergebung zunächst eine gewisse Erleichterung verschaffen. Weil er/sie sich gegenüber dem/der Täter_in und leider auch gegenüber der Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr schuldig dafür fühlen muss, dass er/sie nicht verzeihen “kann“. Die „Fähigkeit“ des Verzeihens wird als Tugend dargestellt. Und vielleicht ist es genau das Gegenteil: mangelnder Mut bzw. Fähigkeit, dem Druck des/der Täter_in und des Umfelds zu widerstehen. Einer tiefgreifenden Heilung aber steht die Vergebung im Wege, denn sie bedeutet eine Wiederholung des Traumas, weil durch die Vergebung genau die Machtverhältnisse wiederhergestellt werden, die während der Tat gegeben waren: ein/e Täter_in, der/die nicht belangt wird und kein schlechtes Gewissen haben muss und ein ohnmächtiges, schweigendes Opfer.

Diese Retraumatisierung wird dann noch verstärkt, wenn der/die Täter_in uneinsichtig ist und keine Reue zeigt. Das Opfer, das einem/r solchen Täter_in vergibt, erleidet enormen Schaden. Es muss alle Schuld auf sich nehmen. Und da die meisten Kindesmisshandler_innen uneinsichtig sind und schon gar keine Reue zeigen, ist es unverantwortlich, das „Heilmittel“ der Vergebung Opfern von Gewalt in der Kindheit zu empfehlen.

Mythos 2

Vergebung/Verzeihung/Versöhnung mache unsere Welt besser.

Hintergrund des Vergebungsmythos sind religiöse Traditionen (nicht nur des Christentums), die Masochismus idealisieren. Haltungen wie „die Welt ist ein Jammertal“, „Schlägt dir jemand auf die eine Wange, so halte ihm auch die andere hin“ oder die Verehrung von masochistischen Märtyrern haben sich trotz der Aufklärung in unsere Zeit hinübergerettet.

Der Mythos der Vergebung findet sich auch in allen spirituell/esoterischen Weltanschauungen, ist sogar ein wesentlicher Bestandteil derselben, weil durch Vergeben – vor allem den gewalttätigen Eltern –  die alte Weltordnung und die bestehenden Machtverhältnisse wiederhergestellt, bzw. aufrecht erhalten werden. So bleiben die Gläubigen und Jünger bei der Stange.

Derartige religiöse/spirituelle/esoterische Weltanschauungen sind zu einer Zeit entstanden, als das Individuum noch nicht die Chance hatte, ein eigenständiges, selbstgestaltetes und  unabhängiges Leben zu führen.

Das hat sich zwar grundlegend geändert, doch es gibt natürlich auch in der heutigen Zeit noch Menschen, die ein Interesse daran haben, dass andere Menschen durch Vergebung Opfer bleiben. Es ist nützlich für machtgierige Politiker_innen, wenn Menschen ihr Leben lang Opfer bleiben. Opfer lassen sich ausbeuten und begehren nicht auf. So nützt die Religion der Politik und umgekehrt.

Mit anderen Worten:

  • Vergebung unterstützt unterdrückende, ausbeuterische Machtverhältnisse
  • Vergebung nützt nur den Kindesmisshandler_innen und schadet den Opfern

Das ist keine Verbesserung für die Welt. Im Gegenteil.

Mythos 3

Vergebung vermindere Wut, Hass und Rache.

Das kindliche Gewaltopfer, das zur Vergebung und damit zum Schweigen gezwungen wird, kann die zur Misshandlung gehörigen Gefühle wie Wut, Hass und Rache nicht verarbeiten, es spaltet sie ab. Vergebung ist hier also gleichbedeutend mit Verdrängung.

Das Opfer speichert sie so lange in sich, bis er/sie dann als Erwachsene/r die Möglichkeit hat, Kindern Gewalt zuzufügen und sich somit an ihnen für die Gewalt seiner/ihrer Täter_innen zu rächen.

Folglich werden Wut, Hass und Rache durch Vergebung nicht vermindert, sondern nur auf die nächste Generation verschoben. So wird durch Vergebung die Gewalt und die Traumatisierungen in jeder Generation neu produziert.

Bestes Beispiel hierfür sind die pädokriminellen Priester, die schon aufgrund ihres Berufs allen vergeben mussten, die ihnen jemals Leid zugefügt haben. Sie haben ihren Täter_innen vergeben und rächen sich dafür an ihnen anvertrauten Kindern.

Natürlich findet die Weitergabe der Gewalt von Generation zu Generation vor allen Dingen in der Familie statt. Dort wird sie durch ein dichtes Netz von Vertuschung, hierarchischen Strukturen, Empathielosigkeit gegenüber Kindern und natürlich mit Hilfe religiöser Mythen wie dem der Vergebung ermöglicht.

Vergebung vermehrt also Wut, Hass und Rache.

Auch das ist keine Verbesserung der Welt. Genauso wenig wie die Neuproduktion von Traumaopfern in jeder Generation.

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