Offener Brief 10.04.2012

Dr. Ursula von der Leyen MdB
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Fax: 030 – 227 – 76234

Betr.: Keine Verjährung der Tat

Sehr geehrte Frau Dr. von der Leyen,

Sie werden als Frauenärztin mit den Folgen sexualisierter Gewalt bestens vertraut sein und wissen, dass die Entwicklung des betroffenen Kindes mit der Tat um so nachhaltiger gestört bleiben wird, je früher das Verbrechen geschieht, je näher sein Täter/seine Täterin sich in seinem Umfeld aufhält.
Häufig führt gesellschaftliche Ignoranz die Betroffenen später in folgenschwere Isolierung und treibt so die gesamte Gesellschaft auf erhebliche Folge-Kosten im Gesundheits-, Sozial- und Arbeitswesen.

Ihnen wird die Initiative netzwerkB (Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt e.V.) bekannt sein.
Im Dezember 2011 hielt Norbert Denef, Vorsitzender von netzwerkB, eine Rede auf dem Bundesparteitag der SPD, die Sie hier nachhören können:
http://youtu.be/j3sUibSUnu0

Vor mehr als drei Jahren hatte Norbert Denef eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof gegen die Ablehnung der Petition ‘Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch im Zivilrecht aufheben’ durch den Deutschen Bundestag eingereicht. Diese Beschwerde können Sie einsehen unter:
http://netzwerkb.org/2009/02/24/515/

Als einzig wirklich wirksame Warnung vor Übergriffen (und zwar für alle Zeiten!) scheint mir nur diese Art der Vorbeugung geeignet zu sein.
Der Täter muss wissen, dass es keine Verjährung der Tat geben wird – niemals!

Der Gesetzgeber hätte mit der not-wendigen Aufhebung der Verjährung bereits vor Jahrzehnten neues Leid unendlich vieler Kinder verhindern können; Kinder brauch(t)en bis zu acht „Anläufe“, um überhaupt einmal angehört, um erst einmal ernst genommen zu werden. Sie wurden gezwungen die Tat zu verdrängen – oft auf Jahrzehnte.
Die Aufhebung der Verjährungsfristen bei Schäden an Psyche, Leib und Leben muss daher – zur gesellschaftlichen Rehabilitierung ehemaliger Opfer – rückwirkend erfolgen.

Aus einem Gastbeitrag in netzwerkb.org möchte ich gern dies zitieren: “ … wie weit wir noch von der tatsächlichen Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt vorwiegend an Mädchen, vorwiegend von Männern und vorwiegend in der Familie und den komplexen Zusammenhängen und Folgen dieser massiven Grundgesetz-und Körperverletzungen entfernt sind.
Zwei Jahre nachdem sich „gut situierte Männer“ als Opfer von sexualisierter Kindesmisshandlung in so genannten „Kaderschmieden“ geoutet haben, ist das „Wissen“ über sexualisierte Gewalt an Kindern und deren lebenslänglichen Folgen und volkswirtschaftlichen Schäden sowohl bei den so genannten „Expert/innen“, wie leider auch in den Medien (und ihrem ungeheuerlichen gesellschaftlichen Einfluss) erschreckend von veralteten, klischeehaften, populistischen und klar täterperspektivischen Vorstellungen geprägt.“
Zitatende 
(Quelle: http://netzwerkb.org/2012/04/04/eine-art-von-fruhem-%e2%80%9eeinverstandnis%e2%80%9c/)

Unser Staat hätte seit seiner Gründung also für die Einhaltung bestehender Gesetze und für die längst überfällige Neufassung dieser nachweisbar fehlerhaften Gesetzgebung sorgen müssen. 
In Politik und Gesellschaft bediente man sich statt dessen einer sträflichen Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber – Wirtschaft und Banken erfuhren [bis heute] jede Priorität.

Bitte, helfen Sie uns, das BEWUSSTSEIN für diese schlimmen Versäumnisse in der Vergangenheit bei Frau Dr. Merkel (sie plädierte anfangs für „Wahrheit und Klarheit“), im Kabinett, in der gesamten Gesellschaft zu stärken.

Bei 10 Mio. Überlebenden(!) müssen irgendwie ALLE beteiligt gewesen sein.

Über Ihre Antwort, über Ihre Solidarität und Ihre Intervention würde ich mich sehr freuen.

Mit hoffnungsvollen Wünschen und

mit freundlichen Grüßen

H. Verhees