netzwerkB 03.05.2012

Gastbeitrag von Ingo Bading

Sehr geehrter Herr Deschner,

in einem Interview vom 23.3.2010 mit der Deutschen Presseagentur, veröffentlicht vom Humanistischen Pressedienst (http://hpd.de/node/9114) werden Sie gleich zu Anfang gefragt, ob es ähnliche Razzien wie im März 2010 im Kloster Ettal schon einmal in der Kirchengeschichte gegeben hätte. Und Sie verneinen diese Frage:

„Etwas wirklich Vergleichbares kaum, zumindest schweigt meine ‚Kriminalgeschichte des Christentums‘ hierzu ebenso wie meine Sexualgeschichte ‚Das Kreuz mit der Kirche‘.“

Und das scheint mir doch, wie ich denke – Entschuldigen Sie bitte! – ein Irrtum zu sein. Aus dem Buch des Historikers Hans Günter Hockerts „Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/1937 – Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf“, schon 1971 im Matthias-Grünewald-Verlag in Mainz erschienen (im Netz frei zugänglich), geht klar hervor, daß es solche Razzien in deutschen Klöstern während des Dritten Reiches sehr wohl und sehr umfangreich gegeben hat, und daß die dabei gewonnenen Ergebnisse was die damalige Verbreitung von Kindesmißbrauch in kirchlichen Institutionen betrifft, offenbar sehr weitgehend der damals vorliegenden historischen Wahrheit entsprachen, die sich mit den vorliegenden Verhältnissen des Jahres 2010 offenbar sehr weitgehend deckte, wenn die damaligen Verhältnisse die heutigen nicht sogar übertroffen haben.

Hockerts ist sogar ein sehr bewußt katholischer Historiker, der das Thema sehr sachlich aufarbeitet in diesem Buch und sehr scharf trennt zwischen offenbar damals weitgehend ordentlicher juristischer Aufarbeitung der Thematik und der diesbezüglich natürlich wieder einmal maßlos übertriebenen Goebbel’schen Propaganda, die vom damaligen Justizminister deshalb auch scharf kritisiert wurde.

Ich halte diese Umstände für eine sehr wesentliche Erkenntnis, schließlich muß daraus die Frage abgeleitet werden:

Ist die katholische Kirche eigentlich wirklich fähig und willens, aus der Vergangenheit lernen zu wollen?

Ich denke, diese Frage muß klar verneint werden, schließlich wurden aus den Erfahrungen der 1930er Jahre auch nach 1971 schlichtweg – soweit mir übersehbar – KEINERLEI Schlußfolgerungen gezogen.

Ich habe über diese Thematik im Oktober 2011 einen zweiteiligen Blogbeitrag geschrieben:

http://studgenpol.blogspot.de/2011/10/katholische-kirche-kein-lernen-aus-der.html

http://studgenpol.blogspot.de/2011/10/katholische-kirche-kein-lernen-aus-der_02.html

(Bzw. parallel auf Paperblog: Teil 1, Teil 2.) Das kann man sicherlich auch noch anders aufbereiten. Aber die wesentlichen Sachverhalte, die hier vorliegen, das NICHTLERNEN aus der Vergangenheit, halte ich für zentral.

Und ich denke, selbst kirchenkritische Kreise könnten viel Anlaß haben, sich selbstkritisch zu fragen, warum nach der Veröffentlichung von Hans Günter Hockerts im Jahr 1971 nicht wesentlich vehementer gefordert worden ist, daß endlich aus der Vergangenheit gelernt würde, und warum Kinder und Jugendliche deshalb bis zum Jahr 2010 in kirchlichen Zusammenhängen so wenig geschützt waren, Eltern nicht mit Hilfe der geschichtlichen Erfahrungen gewarnt wurden.

Vielleicht fühlen Sie oder andere sich doch veranlaßt, den etwaig von Ihnen im März 2010 geäußerten Irrtum öffentlich richtigzustellen (natürlich ggfs. auch in künftigen Werken, bzw. Neuauflagen). Insbesondere sollte sicherlich auch angeregt werden, daß die damaligen Forschungen von Hockerts von dem Erfahrungsstand von heute aus erneut aufgegriffen und vertieft würden.

Mit herzlichem Dank – und sehr großem Respekt – für Ihr umfangreiches und so ungeheuer wesentliches Lebenswerk,

sowie mit freundlichen Grüßen,

Ingo Bading