Die Odenwaldschule galt als Vorzeigeinternat, bis der ehemalige Schüler Andreas Huckele alias Jürgen Dehmers, heute selbst von Beruf Lehrer, 1998 auf die sexualisierte Gewalt gegen Schüler in dieser Institution hinwies. Es wurde Aufklärung versprochen, doch nichts geschah. Die Strafanzeigen wurden wegen Verjährung eingestellt. Die Gesellschaft wollte von Gewalt nichts wissen und schwieg weiter.

Als im Frühjahr 2010 eine neue Welle von Skandalen durch die Bundesrepublik rollte, wurde auch das Thema Odenwaldschule wieder aufgegriffen. Andreas Huckele, eines von mindestens einhundert Opfern an dieser Schule, von seinem Lehrer jahrelang vergewaltigt, erhielt nun den Geschwister-Scholl-Preis für sein Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien?“.

Über die Preisverleihung berichtete unter anderem die ARD am 27. November 2012.

In seiner Rede berichtet Huckele über die Diskriminierung der Betroffenen. Wir drucken die Rede hier im vollen Wortlaut ab und bedanken uns bei Herrn Huckele für seinen Mut und sein Engagement. Einen Dank auch an die Jury für diesen mutigen Schritt.

Die Rede von Andreas Huckele im Wortlaut:

Die Mailbox blinkte, als ich vor einigen Wochen nach Hause kam, an der Stimme meines Lektors Uwe Naumann erkannte ich sofort: Es handelt sich um eine gute Nachricht: „Sie bekommen den Geschwister-Scholl-Preis verliehen.“ Das tolle an einer Mailbox ist, die Nachricht kann so oft abgehört werden, bis man die Mitteilung verstanden hat.

Ich hätte niemals im Traum daran gedacht, dass es im Zusammenhang mit der Odenwaldschule einmal ein Ereignis geben könnte, das bei mir das Gefühl ungetrübter Freude auslösen würde. Jetzt war es soweit!

Ich danke den Mitgliedern der Jury und den Stiftern für diesen Preis und für die Erfahrung, dass nicht nur der Horror größer ist als meine Vorstellungskraft.

„Das müssen mutige Leute sein“, habe ich gedacht, nachdem sich die wiederholt gehörten Worte einen Weg zu dem Teil meines Gehirns gebahnt hatten, in dem das Verstehen wohnt.

Mutig, weil das Thema sexualisierte Gewalt bisher in unserer Gesellschaft nicht den Platz hat, der angemessen wäre, bedenkt man, dass etwa jeder fünfte Mensch in Deutschland davon in irgendeiner Form betroffen ist. Betroffene sexualisierter Gewalt erfahren Widerstände und Hohn allerorten, der Staat schützt die Täter mit Verjährungsfristen, die unzureichend sind. Sobald jemand das 28. Lebensjahr erreicht hat, kann er oder sie in der Regel weder gegen den Täter oder die Täterin juristisch vorgehen, oder, was für viele ebenso schrecklich ist, noch nicht einmal laut sagen, was geschehen war, welche schrecklichen Ereignisse sie erfahren haben, was sich in der Black Box des Missbrauchs befindet, weil die Täter mit ihren Anwälten per einstweiliger Verfügung das Opfer sehr schnell zum Schweigen bringen können. Durch die Verjährungsfristen kann kein klärendes Gerichtsverfahren mehr stattfinden, ohne Gerichtsverfahren kein Urteil gefällt werden und ohne Urteil darf niemand beschuldigt werden, Kinder missbraucht zu haben. Ehrverletzende Äußerung heißt das bei den Juristen. Die Ehre des Täters, wohlgemerkt. Das Opfer wird zum zweiten Mal zum Opfer. Die Logik der Täter, die sich daraus ableitet, lautet: sie müssen ein Kind nur so schwer beschädigen, dass es garantiert nicht vor seinem 28. Geburtstag über das Verbrechen spricht. Das klingt zynisch? Das ist es auch!

Die Entscheidung der Jury finde ich aber auch mutig, weil es in dem Buch, das ich geschrieben habe, um eine Schule geht, die einmal zu den besten des Landes gehört haben soll und auf deren 75-jährigem Jubiläum der Bundespräsident Seite an Seite mit den Kriminellen über das Schulgelände flanierte. Es geht um eine Schule, die von einem pädokriminellen Schulleiter geführt wurde und vor den sich einer der führenden Pädagogen und Intellektuellen Deutschlands als sein Freund schützend stellte und die Hypothese vertrat, dass ja einer der Schüler mal Herrn Becker verführt hatte. Der sagte tatsächlich verführt. Fragt man die 10-jährigen Vergewaltigungsopfer des Schulleiters, klingt das ganz anders. Es geht um eine Schule, deren Versagen in einem Artikel der Frankfurter Rundschau im Jahr 1999 präzise beschrieben wurde und die das tat, was sie eigentlich schon immer tat, wenn es um misshandelte Kinder ging – nichts. Einige Jahre später zeichnete ein anderer Bundespräsident die Schule als einen „Ort der Ideen“ aus. Ich hatte nie die Gelegenheit ihn zu fragen, wie er das denn meine.

Die über einhundert missbrauchten Kinder, die von mehr als einem Dutzend Täter und Täterinnen misshandelt wurden, konnten es mir auch nicht erklären.

Ich habe ein Buch geschrieben, das Menschen demaskiert, die sich zur Elite unseres Landes zählen und die auf die Ereignisse in der Odenwaldschule angesprochen sagen: „Ich habe nichts gewusst“. „Ich habe nichts gewusst“ ist zu wenig in einem Land mit unserer Geschichte, ausgesprochen von Leuten, die einmal angetreten waren, um das bessere Deutschland zu verwirklichen.

„Ich habe nichts wissen wollen“, „ich war feige“, vielleicht sogar „ich war dumm“ wäre da schon glaubwürdiger.

In der Bundesrepublik Deutschland ist es Menschen und Menschengruppen immer wieder gelungen, sich für ihre Interessen einzusetzen und Benachteiligungen und Diskriminierungen abzubauen, wenngleich der gegenwärtige Zustand der Republik noch viel Anlass zur Nachbesserung bietet.

Was ist das aber für ein Staat, der es zwar zulässt, dass Menschen für ihre Rechte streiten, sich aber nicht für diejenigen einsetzt, die in der Mehrzahl nicht streiten können, weil sie Kinder sind, weil sie Kinder waren, die nun schwer beschädigte Erwachsene sind?

Ist das ein Staat, der das Faustrecht durch das Wortrecht ersetzt hat. Ist das Zivilisation? Ist das ein Rechtsstaat? Oder ist das nur Sozialdarwinismus auf versetztem Niveau?

Zur Odenwaldschule habe ich nicht mehr viel zu sagen, außer: Sperrt den Laden endlich zu!

Wer nun denkt, der Dehmers, oder nun, der Huckele, der lebt in der Vergangenheit, den möchte ich wissen lassen: Ich habe in diesem Jahr mit gegenwärtigen Lehrkräften und mit gegenwärtigen Schülerinnen und Schülern gesprochen und ich war vor Ort und habe dem Alltag in Ober-Hambach zugeschaut. Im Großen und Ganzen ist dort alles beim Alten, der Geschäftsführer Meto Salijevic zum Beispiel, der Ende der neunziger Jahre, als die Frankfurter Rundschau die Verbrechen an der Odenwaldschule publik machte, bereits im Amt war, ist es heute immer noch. Bekanntlich stinkt ja der Fisch vom Kopf her. Die Odenwaldschule füllt in einem so irrsinnigen Tempo den alten Wein in neue Schläuche, dass ich mir die vielen Etiketten kaum noch merken kann, beim häufigen Wechsel des Personals des Trägervereins will man die ständig neuen Namen schon gar nicht mehr hören.

Blicke ich zurück auf diesen 15-jährigen Prozess der Aufklärung, bei dem immer mehr Menschen mitgewirkt haben, immer mehr Menschen ihre Puzzle-Teilchen zum großen Bild beigesteuert haben, könnte ich jetzt Name um Name nennen. Es sind viele. Blicke ich zurück auf den Anfang, als noch niemand ahnte, dass der Versuch, diese Verbrechen an der Menschlichkeit aufzuklären, irgendwann einmal erfolgreich sein würde, sind es lediglich zwei Menschen, die entschlossen und unbeirrbar mit mir gemeinsam die Betonmauer des Wahnsinns der Täter und ihrer Helfer durchbrochen haben. Ich danke meinen Freunden Thorsten Wiest und Kathrin Heres.

Sexualisierte Gewalt ist zum massenmedial kommunizierten Thema geworden und springt uns mit plakativen Wortklecksen ins Auge, denen ich  etwas hinzufügen möchte.

„Brecht euer Schweigen“, wurde uns zugerufen, und damit haben die Betroffenen sexualisierter Gewalt wieder die Verantwortung für die Situation, in der sie sich befinden. Würden sie sich äußern, wäre alles anders, suggeriert dieses Statement. „Schafft einen Rahmen, in dem es möglich ist zu sprechen“, entgegne ich. Sobald die Diskriminierung der Betroffenen beendet ist, sobald die Verjährungsfristen  abgeschafft sind, werden mehr von uns sprechen. Ohne Zweifel.

Wir müssen eine „Kultur des Hinschauens“ entwickeln, höre und lese ich seit einiger Zeit. Spreche ich mich mit Menschen zum Thema, frage ich sie: „Und, wo schauen Sie nun hin?“ Statt einer Antwort ernte ich fragende Blicke. Solange die Kriterien, an denen ich misshandelte Kinder erkennen kann, nicht Allgemeinwissen sind, solange ich Strukturen in Einrichtungen, in denen sich Kinder aufhalten, nicht beurteilen kann, solange ist „Hinschauen“ zwar gut gemeint, aber nicht wirkungsvoll. Ich muss schon wissen, wohin ich schauen soll.

Im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal der britischen BBC hörte ich eine Metapher, die ich schon so oft gehört habe. Es handelt sich bei den Vorfällen in Großbritannien um die „Spitze des Eisbergs“. Wenn ich mir die verschiedenen Spitzen der Eisberge ins Gedächtnis rufe, die mir in den letzten 15 Jahren begegnet sind, komme ich mir vor wie der Kapitän eines sehr kleinen Schiffes, der sich durch die Eisbergspitzen navigiert, und frage mich: Wäre es nicht einmal interessant, den ganzen Eisberg zu sehen?

In welcher Welt wollen wir leben? Wollen wir es weiter hinnehmen, dass die Rechtslage und die Strukturen in unseren pädagogischen Einrichtungen die Täter schützen und nicht die Kinder? Oder wollen wir etwas anderes? Und was sind wir bereit dafür zu tun?

Ich werde immer wieder gefragt, woher ich den Mut nehme, die Entschlossenheit und die Kraft, das zu tun, was ich tue. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und immer wieder leicht veränderte Antworten gegeben. In diesen Tagen verdichten sich die Fragen und es verdichtet sich auch meine Antwort, die sich nun endlich stimmig anfühlt. Sie lautet: Ich weiß es nicht! Was ich weiß ist, dass es mich mehr Kraft gekostet hätte, nichts zu tun, nicht den ersten Brief zu schreiben, indem wir lediglich die nächste Schülergeneration vor einem der Haupttäter schützen wollten und dachten, die Odenwaldschule freut sich über unseren Hinweis.

Die Geschwister Scholl haben durch ihren Mut ihr Leben verloren, ich habe durch das, was ich getan habe, mein Leben gewonnen.