Jahrhundertelang brachte die katholische Kirche kleine Verfehlungen ganz groß raus. Bei unkeuschen Gedanken, Widerworten gegenüber dem Christenlehre-Fräulein und versäumten heiligen Messen drohten ihre Priester mit Höllenqualen. Das Sünderlein glaubte, was es über Schuld und Strafe hörte. Es fürchtete sich. Mittlerweile ist die Angst von unten nach oben gewandert, von den niederen Rängen in die Reihen der Oberhirten. Kirchenmitglieder zittern nicht mehr vor den Worten der Geistlichkeit, Hierarchen aber bibbern ob des Volkes Stimme. Die Una Sancta hat zwar gute Presse eigentlich nicht nötig, weil ihre Amtsträger sich von Gott auserwählt wähnen und nicht von Menschen gewählt werden. Doch einer Konfession, die Bilder liebt, kann das eigene Erscheinungsbild nicht gleichgültig sein.

Die Opfer des sexuellen Missbrauchs haben lange vergeblich darauf gewartet, dass ihnen ein Kirchenmann zuhört und dass die Schuldigen bestraft werden. Einige von ihnen mögen bereit zur Vergebung gewesen sein, doch niemand befand es für nötig, sie darum zu bitten. Die Institution sorgte sich mehr um die Seelen der Täter als um die der Opfer. Hätte es den öffentlichen Druck des Jahres 2010 nicht gegeben, wäre es wohl bei diesem Missbrauchs-Missverhältnis geblieben.

Im Juli 2011 kündigte die Deutsche Bischofskonferenz eine umfassende Studie zum Thema Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen an. Das Großprojekt entsprang nicht allein einem inneren Bedürfnis der Würdenträger, sondern auch dem Wunsch nach einer neuen Außendarstellung. Die Kirche präsentierte sich als brutalstmögliche Aufklärerin eigener Sünden. Für die Rolle des kriminologischen Kant wurde Christian Pfeiffer gefunden; er sollte dem Klerus beim Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit helfen. Der Niedersachse galt als eloquent, medienaffin und der Kumpanei unverdächtig. Bedenken gab es bei den Bischöfen zwar von Anfang an, aber erst einmal sollte der Eindruck entstehen: Alle 27 wollen redlich herausfinden, wie es eigentlich gewesen ist.

Vor einer Woche trennte sich die Bischofskonferenz von dem Wissenschaftler. Was Aufklärung hätte werden sollen, versumpfte in einer Schmutzkampagne, wie man sie eher in einem Zerrüttete-Paare-Spezial auf RTL 2 erwartet als in der „Tagesschau“. Christian Pfeiffer schleuderte den Zensur-Vorwurf in die Medien, die Bischofskonferenz schmiss ihm das Wort „unseriös“ hinterher.

Für die Missbrauchsopfer dürfte diese Entwicklung enttäuschend sein, aber nicht überraschend. Schon im Sommer vergangenen Jahres erklärte Norbert Denef gegenüber Christ&Welt, er erwarte nichts mehr von der Kirche. Denef hat das Netzwerk B gegründet, einen Verein für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt (siehe C&W Nr. 31/2012, Seite 2).

Für die Institution ist das vorläufige Studien-Aus ein Debakel. Christ & Welt hat beim Meinungsforschungsinstitut Forsa eine Umfrage zu den Folgen dieser „Pfeiffer-Affäre“ in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse veröffentlichen wir hier erstmals. Demnach glauben nur 17 Prozent aller Befragten, dass die katholische Kirche jene Fälle sexuellen Missbrauchs, an denen Geistliche beteiligt sind, ehrlich aufarbeiten will. 75 Prozent glauben das nicht. Bei den über Sechzigjährigen ist die Skepsis überdurchschnittlich hoch: 82 von 100 sind davon überzeugt, dass die Kirche Aufklärung eher verhindern will. Unter den Katholiken glauben 28 Prozent an den guten Willen der Institution, aber auch hier zweifelt eine deutliche Mehrheit von zwei Dritteln massiv an der Aufklärungsambition.

Für 16 Prozent der Kirchenmitglieder ist die geplatzte Pfeiffer-Studie sogar ein Anlass, einen Austritt in Erwägung zu ziehen. Besonders prekär sind die mittleren Altersgruppen: Von den 30 bis 44-jährigen Katholiken denkt jeder Fünfte darüber nach, der Kirche den Rücken zu kehren, bei den 45 bis 59 Jährigen rund jeder Vierte (26 Prozent).

Auf die Frage, ob sich nach den jüngsten Ereignissen das eigene Kirchenbild verschlechtert habe, antworten 35 Prozent mit Ja, 61 Prozent mit Nein. Unter den Katholiken ist das Meinungsbild ähnlich: Von ihnen sagen 37 Prozent, es habe sich verschlechtert, 62 Prozent erklärten den Demoskopen, es sei gleich geblieben. Fast zwei Drittel der Befragten haben sich offenbar von den negativen Schlagzeilen der letzten Tage nicht beeindrucken lassen. Der Imageschaden könnte größer sein, so ließen sich die Zahlen kirchenfreundlich deuten. Aber bei den 62 Prozent bildfester Katholiken dürfte sich eine Portion Resignation bemerkbar machen.

Im öffentlichen Umgang mit der katholischen Kirche gibt es Heuchelei auf allen Seiten: Wer die spontanen Blog-Einträge zum Thema Missbrauchsstudie las, fand viele Kommentare vom Typus: „Das war schon immer ein Vertuscher-Verein, ist doch klar, dass die keine unabhängige Studie zulassen.“ Zugleich wird diesem weltbekannten „Vertuscher-Verein“ nach wie vor eine beachtliche moralische Fallhöhe attestiert. Paradoxerweise speist sich die Erregung öffentlichen Ärgernisses aus einer Erwartung, die das Gros der Deutschen gar nicht mehr hat. Es nützt aber wenig, wenn Kirchenvertreter darauf verweisen, dass sich auch in Sportvereinen, Familien und Künstlerkolonien Erwachsene an Kindern vergehen. Die Kirche wird mit anderem Maß gemessen als Klaus Kinski, ob es ihr passt oder nicht.

Manche Erwartung an die Geistlichkeit mag nur vorgetäuscht sein, doch es gibt einen Kern der ehrlich Enttäuschten. Die wenigen, die überhaupt noch etwas erhoffen, hatten tatsächlich geglaubt, ihre Kirche sei am Vorbildlichen interessiert, nicht nur am Image.

Wie viele Menschen schreckliche Erfahrungen mit Priestern und Ordensleuten gemacht haben, wird vorerst nicht verlässlich zu beziffern sein. Ohne aufrechnen zu wollen: Zur Wirklichkeit gehört auch, dass Hunderttausende in Jugendgruppen und Gottesdiensten, Konzerten und Gesprächen Kirche völlig anders kennenlernen: als Bereicherung ihres Lebens. Als guten Geist und nicht als Sex-Monster. Diesen Treuen tut das Armutszeugnis, das sich die Bischöfe selbst ausgestellt haben, in der Seele weh. Bei den 45 bis 59 Jährigen – der Altersgruppe der Engagierten – hat Forsa besonders große Erschütterungen festgestellt. 41 Prozent sagten hier, ihr Kirchenbild habe sich verschlechtert, in diesem Segment finden sich zudem die meisten Austrittskandidaten.

Gern wird behauptet, die Medien hätten den Missbrauchsskandal aufgebauscht. Im Alltag der meisten Gemeinden sei dies kein Thema. Das ist bequem, aber falsch. Auch im kleinsten Dorf bekommen Laien und Pries- ter das Gefühl, einer LoseTruppe anzuge- hören. Viele Gläubige fragen: Warum gelingt denen da oben so wenig? Wie sollen wir in Gottes Namen hier Menschen gewinnen, wenn schon das Wort „Kirche“ mit Schuld und Scheinheiligkeit verbunden ist?

Niemandem fällt es leicht, eine Selbstanklage zu formulieren. Kaum jemand gesteht freiwillig Schuld, schon gar nicht öffentlich. Wer sich auf ehrliche Aufklärung einlässt, begibt sich in die Hand eines anderen.

Der Satz „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ stammt zwar nicht von Jesus, sondern von Lenin. Aber nichts fürchtet die katholische Kirche mehr, als die Beherrschung zu verlieren. Sie hat dem Wissenschaftler misstraut, sie misstraut der Öffentlichkeit, und sie misstraut der eigenen Courage. Bis zum Kontrollkollaps. Was wäre schlimm daran gewesen, vor einigen Monaten zuzugeben, dass die Probleme größer sind als gedacht? Wenn es gute Gründe dafür gibt, Personalakten besonders zu schützen, warum wurden die Argumente dem Publikum nicht zugemutet? Weil es vor lauter Ressentiments nicht zuhört? Wer sich so vorauseilend ängstigt, marginalisiert sich selbst.

Christ&Welt hat Forsa auch nach möglichen Auswegen fragen lassen. Was wäre Aufklärung?, wollten wir wissen und haben einige Maßnahmen zum Thema Missbrauch vorgeschlagen. Zwei Drittel der Befragten halten es demnach für einen guten Weg, den Opfern, ähnlich wie Stasi-Bespitzelten, Akteneinsicht zu gewähren. Besonders in der kritischen Altersgruppe der 30- bis 44 Jährigen wird dies als vertrauensbildend bewertet. Nebenbei käme damit auch Klarheit ins Thema Aktenvernichtung.

Eine neue Studie eines unabhängigen Wissenschaftlers hält etwas mehr als die Hälfte der Befragten für gewinnbringend. Die Einrichtung einer Internetseite mit Ansprechpartnern würden insgesamt 41 Prozent befürworten, aber immerhin 49 Prozent der Katholiken und 51 Prozent der jüngeren Befragten unter 30.

Vielen geht es offenbar um Austausch, um Kommunikation. Genau daran hapert es in der Kirche. In den oberen Etagen hält sie viel vom Schwarmglauben und wenig von Schwarmintelligenz. Gern wird Wahrheit gegen Mehrheit ausgespielt. Die Forsa-Umfrage zeigt: Das geht auf Dauer nicht gut. Bibbernde Bischöfe wünscht sich kein Mensch.

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