Jahrelang wird Norbert Denef als Kind von einem katholischen Priester missbraucht. Als Erwachsener zeigt er seinen Peiniger an – und erwirkt als erstes Opfer in Deutschland ein nennenswertes Schmerzensgeld

VON HARALD BISKUP

Wahrscheinlich ist das große ovale Holzportal mit den schweren Eisenbeschlägen auch jetzt wieder zugesperrt. Wie jedes Mal, wenn er einen neuen Anlauf unternommen hat, an den Ort zurückzukehren, mit dem er schlimmste traumatische Erinnerungen verbindet, Abscheu und Ekelgefühle.

„Da oben ist es passiert, tagsüber auf der Couch, abends im Bett“, sagt Norbert Denef, als wir vor dem Haus des einstigen Vikars stehen. „Man müsste es abreißen, es atmet immer noch diesen Geist“, sagt er bitter. Die verschlossene Kirchentür der St. Marienkirche in Delitzsch bei Leipzig ist für den drahtigen 63-Jährigen, der hier von seinem zehnten Lebensjahr an von einem Priester systematisch sexuell missbraucht worden ist, Symbol der Mauer des Schweigens, die die Kirche errichtet habe. Um seinen Fall und um das Schicksal jener Opfer, die noch immer nicht über das Erlebte reden können.

Ein freundlicher Praktikant, erst nach der Wende geboren, lässt uns durch die Sakristei in die Kirche. Doch er weiß nichts von den dunklen Seiten der Gemeindechronik, hat bislang nichts davon gehört, dass Vikar Alfons Kamphusmann, der hier von 1959 bis 1967 gewirkt hat, sich in seiner Wohnung ständig „mit Jünglingen“ umgab. Und alle, alle haben ihn gedeckt und gewähren lassen, der Pfarrer, der Dechant, wohl auch der Bischof. Als ein mutiges Elternpaar publik machte, dass der Herr Vikar auch ihren Sohn belästigt hatte, wurde Kamphusmann von einen Tag auf den anderen ins Nachbarbistum versetzt. Die übliche Methode des Vertuschens. Im Fall Kamphusmann, der 1952 nach der Priester- weihe aus dem Ruhrgebiet in die DDR gekommen war, um im SED-Staat brüderliche Hilfe als Seelsorger zu leisten, wurde fünf bis sechsmal nach diesem Muster verfahren.

Der junge Mann, der als Pastoralreferent in die Dienste der Kirche treten will, zuckt zusammen, als Norbert Denef mit dem am Eingang ausliegenden gelben Kirchenführer in der Hand berichtet, er habe „mit zehn schon gewusst, was ein Zungenkuss ist und meine Unschuld verloren“. Auf ein Foto des „Serientäters“, wie Denef ihn nennt, hat man in der Broschüre verzichtet. Dafür aber sind die Kirchenglocken abgebildet, und der Name der großherzigen Spender ist erwähnt. „Meine Großeltern“, sagt Denef leise.

Es ist ihm spürbar schwergefallen, hierhin zurückzukehren, denn der schüchterne blonde Junge ist in den 60er Jahren nicht nur der Liebling des Vikars gewesen, sondern nach dessen unfreiwilliger Versetzung zum zweiten Mal zum Opfer geworden. „Kamphusmann war zwei oder drei Tage weg, da machte sich der Organist über mich her und zog mich zu sich ins Bett.“ Der Missbrauch fand in dessen Wohnung ebenso statt wie zum Beispiel nach einem Konzert der Delitzscher Knaben-Schola. „Bach singen, das ist einfach göttlich, wenn es das gibt“, sagt Denef, der inzwischen aus der Kirche ausgetreten ist und auch mit seinem christlichen Gott hadert. Der Auftritt habe ihn so richtig in Trance versetzt. Und dann folgte übergangslos „die Hölle,“ als bei der gemeinsamen Übernachtung mit den anderen Chorsängern der Kantor „unter meine Bettdecke gekrochen kam“. Er habe sich schlafend gestellt, sei aber in Wirklichkeit hellwach gewesen. Einer dieser Schutzmechanismen, die er in seiner Hilflosigkeit entwickelt habe. Noch ein flüchtiger Blick rauf zur Orgelempore, dann drängt es Denef nach draußen.

Fünf Minuten später halten wir vor einem Haus mit schmutziggelben Klinker in der Dübener Strasse. „Die 48, mein Elternhaus, fast alles wie früher“, bemerkt Denef. Er deutet auf den ersten Stock. „Beide Täter haben es auch da oben mit mir getrieben.“ Auf seinem PC hat er einen genauen Lageplan abgespeichert, „wo jeder Stuhl stand und vor allem jedes Bett“. Als könnte er je vergessen, wie der Vikar, der bei Denefs mit ausdrücklicher Billigung der alleinerziehenden Mutter regelmäßig zu Gast war, „mir am Rande von Familienfeiern im Nachbarzimmer dreist zwischen die Beine gegangen ist“. Denef ist felsenfest überzeugt, dass Kamphusmann sich auch an einem seiner beiden älteren Brüder vergangen hat, der oft bei ihm übernachtet hätte. Beide engagierten sich nach der Wende für die CDU in der Kommunalpolitik. Bruder Hans Gerd war sogar Bürgermeister. Nicht nur die beiden, Denefs gesamte „Herkunftsfamilie“, wie er sie mit einem Begriff aus der Familientherapie nennt, schweigt bis heute eisern zu diesem Thema. Obwohl alle wissen, „dass ich beide Täter beim Bistum Limburg angezeigt und meinen Fall aktenkundig gemacht habe“ (siehe Kasten). Sein „Clan“ lehnt Kontakte zu dem „Nestbeschmutzer“ ab.

Norbert selbst hat 35 lange Jahre gebraucht, bis er dazu in der Lage war, seine schlimmen Erlebnisse auszuspucken. „35 Jahre Einzelhaft mit seelischer Folter. Die Bilder waren immer da, aber ich hab es einfach nicht rausgebracht.“ Niemandem, nicht mal seiner Frau Veronica, gleichfalls in der DDR-Provinz aufgewachsen und katholisch sozialisiert, hat er sich offenbart.

Als das Paar mit seinen beiden Kindern Anfang der 80er Jahre in den Westen ausreist, funktioniert der Wechsel des Technikers von der Leipziger Oper an die Alte Oper in Frankfurt problemlos. „Das war damals eine Riesenchance und vom Künstlerischen her sehr spannend.“ Trotz glücklicher äußerer Umstände spürt das Arbeitstier Denef, dass „der Rucksack mit meinem Psycho-Gepäck immer schwerer wurde“. Mit 40 gerät er in eine tiefe Krise. Klinikaufenthalte und Therapien schließen sich an. Auch einen Suizidversuch unternimmt er in jenen Jahren. Er verschlingt psychologische Fachliteratur und macht per Fernstudium nebenher eine Ausbildung zum Gesundheitsberater. Vor allem habe er sich mit diesem Wissen selbst helfen wollen.

1993 findet er die Kraft, das jährlich stattfindende Familientreffen so vorzubereiten, dass es am Ende zum – absehbaren – Eklat und zum Bruch mit den Geschwistern kommt. Er lädt die beiden Männer, die ihm bis heute nachwirkende seelische Schäden zugefügt haben, zur Kaffeetafel ein. Und konfrontiert sie vor allen Anwesenden mit den Taten. „Untaten“, fügt Denef auf unserer langen Autofahrt hinzu. Dem eisernen Schweigen folgte der Rausschmiss. „Dieser Tag war meine persönliche Wende“, sagt Denef. Das Verhalten der Brüder schmerzt ihn. Trotzdem fahren wir am Haus des Ex-Bürgermeisters vorbei. Nach seinem ganz speziellen Comingout dauert es noch zwei Jahre, bis Denef den formalen Bruch mit seiner Kirche vollzieht – und noch viel länger, bis er sich aufrafft, Alfons Kamphusmann, inzwischen im Bistum Limburg tätig, beim dortigen Generalvikar anzuzeigen. Zuvor hatte er ihn nach langer Funkstille zusammen mit seiner Frau zweimal aufgesucht und bei dem Priester „null Einsicht und keinerlei Schuldgefühle“ bemerkt. Als ihm auffällt, dass „er offenbar weitermacht“, weil zwei Betten benutzt sind, greift Denef zum Telefon. Endlich.

Warum hat er so lange geschwiegen? Warum hat er das zweite Martyrium über sich ergehen lassen, obwohl er inzwischen schon 16 war und jederzeit aus der „Beziehung“ hätte ausbrechen können? Und weshalb lässt er sich nach allem, was geschehen ist, 1973 ausgerechnet von Alfons Kamphusmann am Traualtar den Ring anstrecken?

Im Dachstudio seines Hauses im Ostseebad Scharbeutz, wo er mit seiner Frau seit vier Jahren lebt, ringt Denef mit einer Antwort. „Man idealisiert alles, um überleben zu können, und lässt auch auf seinen ärgsten Übeltäter nichts kommen.“ Das sei so ähnlich wie mit Geiseln, die ein fast freundschaftliches Verhältnis zu ihren Kidnappern entwickeln – das berühmte „Stockholm-Syndrom“. Alle in Delitzsch hätten für den „lieben und netten Vikar“ geschwärmt, auch die Mädels. „Er hat sich genommen, was er kriegen konnte, doch die Vorliebe für Knaben war offenkundig“, sagt Denef.

Später werden wir Holger Hörle treffen, zwei Jahre jünger als Denef. Er war Kamphusmann noch unmittelbarer ausgeliefert. Der Vikar und spätere Pfarrer ist ein Cousin seines Vaters. „Onkel Alfons kam unangemeldet, und wenn er das Bedürfnis dazu hatte, nahm er mich mit.“ Schon die 70 Kilometer per Motorrad oder Wartburg fand Holger zu tiefsten DDR-Zeiten spannend. Und gemessen an den Schlägen des Vaters und dem Eingesperrtsein im Keller waren die Tage und auch die Nächte im Pfarrhaus „das kleinere Übel“. Kamphusmann habe ihn und die anderen Jungs „regelrecht eingelullt. Man konnte nicht ablehnen, auch wenn sich innerlich alles sträubte. „Als Kind mag er mir kurzzeitig geholfen haben“, sagt Hörle heute, „aber als Erwachsener hat er mich psychisch vernichtet.“

Er kann gar nicht alle Klinikaufenthalte aufzählen, die er wegen seiner Depressionen hinter sich hat. Schon seit mehr als 20 Jahren ist Hörle erwerbsunfähig. Beide, Holger und Norbert, sind bei Kamphusmann ein- und ausgegangen. Aber erst lange nachdem Denef als Sprecher des von ihm gegründeten „netzwerkB“ an die Öffentlichkeit gegangen ist, konnte auch Hörle über den dutzendfachen Missbrauch reden. Heute kann er davon sprechen, „dass Onkel Alfons mich praktisch entjungfert hat. Und dass derjenige von uns, der sich nach dem Schwimmen als Erster einen runterholte“, fünf Mark vom Vikar bekommen hat. Und beide Männer erinnern sich an das Loch im Schreibtisch. „Das haben wir mit dem Finger gebohrt, um uns auszublenden, während er an uns rumgemacht hat.“

Spaziergang an der Steilküste bei Scharbeutz. Das Meer glitzert in der Februarsonne. „Die Ostsee ist meine beste Therapeutin“, sagt Norbert Denef oft. 45 Jahre liegt „dieser Seelenmord“ nun zurück. Doch die Folgen machen sich noch immer bemerkbar. Niemals könnte Denef ein Krankenzimmer mit einem Mann teilen. Und bis heute lässt er zum Haareschneiden keinen Friseur an sich heran.

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25 000 Euro vom Bistum Magdeburg

Norbert Denef (63) ist Vorsitzender des „Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt“ (netzwerkB). Er wurde acht Jahre lang vom Vikar und vom Organisten der Gemeinde im sächsischen Delitzsch sexuell missbraucht. Bei der zugesagten Aufarbeitung hätten sowohl die Kirche als auch der Runde Tisch Kindesmissbrauch versagt.

Seit Jahren kämpft Denef dafür, dass sexueller Missbrauch strafrechtlich nicht verjährt und fordert eine „Wahrheitskommission“. Als erstem Opfer gelang es Denef im Jahr 2003, vom zuständigen Bistum Magdeburg 25 000 Euro für Therapiekosten zu erstreiten. Ursprünglich hatte die Kirche verlangt, dass Denef im Gegenzug über seinen Fall Stillschweigen wahrt.

Alfons Kamphusmann ist 1998 gestorben. Bis zuletzt war er als katholischer Priester tätig. (bk)

Quelle: Freitag, 22. Februar 2013 Kölner Stadt-Anzeiger
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