Ein Gastbeitrag von Heidi Dettinger (Verein ehemaliger Heimkinder)


Foto: privat)

1. Der Spielfilm

Es war ein verlogener Film mit Szenen die so unwirklich waren, dass mir als ehemaliger Insassin eines Heimes für schwererziehbare Mädchen – einem Heim der Diakonie – schier die Augen über gingen:

Jungen und Mädchen
in einem kirchlichen Erziehungsheim unter einem Dach! Das ist so unwahrscheinlich wie ein Tsunami in der Wüste Gobi. Was sollte dann also damit erreicht werden? Ach ja, die Liebesgeschichte eingeläutet… Vielleicht. Ich glaube aber, dass eine solche Verzerrung zu einer emotionalen Schieflage führen kann und soll. Nicht bei den Ehemaligen – die wissen es besser – sondern bei anderen. Sie soll ein bisschen versöhnlicher stimmen. Nicht intellektuell, sondern emotional.

Eine Bücherei
und eine Taschenlampe nachts im Bett führen beide auch zu eben jener emotionalen Schieflage – bei allem Schrecken, es meldet sich das Stimmchen „immerhin gab es Bücher, Bildungsmöglichkeiten, nachts konnte gelesen werden“… Dieses Stimmchen wird irgendwann andere Emotionen, die der Film ausgelöst haben mag, ausblenden und überstimmen.

Die verliebten Blicke,
dann sogar das Treffen im Strafzimmer! Ein Junge und ein Mädel? Im Strafzimmer? Auf einem Bett sitzend? Im Halbdunkel mit Sonnenstreifen? Irgendwie süß, niedlich, ein bisschen schmerzhaft (kommt der Schmerz von dem geschwollenen Gesicht oder der Süße der jungen Liebe?), ziemlich romantisch und absolut verlogen.

Eine Bank vor dem Tor,
auf der sich Mutter und Tochter eine halbe Stunde lang ungestört unterhalten dürfen. Und natürlich fehlte das Vogelgezwitscher, als Luisa durch das Tor tritt, ebenso wenig wie Luisas verträumter Blick in diesem Moment der „Freiheit“. Lüge!

Der Film war gespickt mit diesen Szenen, eine verlogener als die andere. Und während Überlebende der Kinderheimhöllen diese kleinen und großen Lügen sofort auffallen und sie deshalb wirkungslos verpuffen, fallen sie Nicht-Ehemaligen genau nicht auf und können so ihre Wirkung entfalten: Es war ja doch alles nicht so schrecklich – immerhin gab es Nächte, in denen man sich gegenseitig im Schein der Taschenlampe vorlesen konnte, sich Jungen und Mädel verlieben konnten, sich weiße Bettwäsche im Winde blähte, und sogar das Strafzimmer war irgendwie romantisch…

Völlig unglaubwürdig war die Erklärungen der Filmemacherinnen über die „gebremste Brutalität“, die nicht recht in die Prime-Time passe. Jeder Tatort ist inzwischen gruseliger, von TV-Berichten aus Kriegs- und Krisengebieten ganz zu schweigen. Verhungernde Kinder mit Fliegen in den Augenwinkeln, Kindersoldaten, denen noch der Rotz aus der Nase läuft, die aber dennoch eine tödlich aussehende Waffe ziemlich nonchalant über der schmalen Schulter tragen, Patienten in überfüllten dreckigen Krankenhäusern mit abgerissenen und kaum medizinisch versorgten Gliedmaßen gehören jedenfalls genauso wenig zu meinen favorisierten Prime-Time-Bildern, wie auf ausgedörrtem Boden liegendes, mit Schwären und Fliegen übersätes Vieh, zerrupfte Hühner in deutschen Hühner-Kzs, Maden, die sich auf meinem Mittagessen von morgen winden. Dennoch bekomme ich dies oft genug zum Abendbrot serviert.

Aber an Heimkindern begangene Brutalitäten sind nicht vorzeigbar? Aha…

Tatsächlich ließen die elegante, gebildete, aus Amerika herein gewehte Luisa (Senta Berger) und der eloquente Paul (Matthias Habich) in dem Spielfilm nur einen Schluss zu: Ein paar Jahre Heim sind nicht schön, haben aber außer ein paar Albträumen keinen wirklichen Schaden angerichtet!

2. Die Dokumentation zum Film

zeigte Aussagen von Ehemaligen, die betroffen machten. Aber leider blieb es auch dabei. Hier wurde eine wirklich historische Chance verpasst, aufzuzeigen, dass

  • a)  die Heimerziehung in Deutschland einen fließenden Übergang darstellt von Nazideutschland in die Nachkriegszeit. Erzieher, die erwiesener Maßen Aufseher in KZs gewesen sind oder natürlich auf jeden Fall ihre Ausbildung im Nationalsozialismus „genossen“ hatten. Es gab meines Wissens keine Verurteilung ehemaliger ErzieherInnen, Brüder, Diakone, Diakonissen…
  • b)  in deutschen Heimen Zwangsarbeit geleistet wurde, die laut § 12 GG der Bundesrepublik Deutschland verboten ist: (2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig. Außerdem ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland 1957 das Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in dem Zwangsarbeit für illegal erklärt wurde.
  • c)  Der Runde Tisch Heimerziehung ein Farce war, die dafür sorgte, dass ehemalige Heimkinder verunsichert und vertröstet werden konnten, es darüber hinaus
  • d)  nie eine Entschädigung für Ehemalige aus den Höllen deutscher Heimerziehung gab, dass – ganz im Gegenteil – Kirchen, Bund und Länder die Billiglösung wählten und durchsetzten und nicht zuletzt
    • ein Großteil der Ehemaligen ganz und gar aus jeglicher Art von Zahlung
      herausfallen:
    • Ehemalige aus Heimen für Kinder mit Behinderungen,
    • Kinder, die in die Psychiatrie gesteckt wurden
    • Kinder, die Zwangsarbeit leisten mussten, bevor sie auch nur 14 Jahre alt waren,
    • Kinder und Jugendliche, die nach 1975 ohne Lohn und Lohnabgaben in den
      Heimen schuften mussten.
      In keiner Weise kompensiert werden auch die Brutalitäten und Bestialitäten, die den Kindern und Jugendlichen in den Heimen angetan wurden:
    • Vergewaltigungen durch so genannte Brüder und Schwestern, von Nonnen und Diakonen, Heimleitern und Diakonissen, PraktikantInnen und älteren Heimkindern,
    • Prügeln bis hin zu regelrechten Folterungen,
    • systematischer Freiheitsentzug,
    • Illegale Medikamentengaben zum Zwecke der Ruhigstellung, des Gefügigmachens oder auch des Experimentierens,
    • psychische Misshandlung wie „niedermachen“, demütigen, isolieren,
    • Verweigern von Beschulung und Berufsausbildung,
    • Gewaltsame Trennung von Geschwistern, Eltern, Großeltern,
    • Religiöse und politische Indoktrinierung.
      Diese Dinge fanden im der Dokumentation keinen Widerhall, sie wurden nicht erwähnt, geschweige denn diskutiert.

Erwähnung fanden auch nicht die oftmals desolaten finanziellen Situationen, in denen Ehemalige sich heute häufig befinden.