Von drei auf 30 Jahre bei sexuellem Missbrauch

von Prof. Dr. Tatjana Hörnle

Vergangene Woche verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, nach dem Opfer sexuellen Missbrauchs ihre Ansprüche auf Schmerzensgeld künftig länger durchsetzen können sollen. Auch die die strafrechtlichen Verjährungsfristen wurden verlängert. Dabei hätte der Gesetzgeber ruhig noch etwas mutiger sein können, zumal andere Länder eine Verjährung im Strafrecht gar nicht kennen, meint Tatjana Hörnle.

Erst Ende Januar hatte der Bundesgerichtshof (BGH) ein Urteil von Dezember bekannt gegeben, mit dem es den Schmerzensgeldanspruchs eines Opfers sexuellen Missbrauchs bestätigte. Der Anspruch war – anders als der Beklagte vorgetragen hatte – noch nicht verjährt, weil der Geschädigte in Folge einer posttraumatischen Störung die Tat komplett verdrängt hatte. Damit hatte der Kläger keine Kenntnis von den seinen Schmerzensgeldanspruch begründenden Umständen, so dass die Verjährungsfrist zu laufen begonnen hatte (Urt. v. 04.12.2012, Az. VI ZR 217/11).

Um solche Fälle künftig auch ohne posttraumatische Störungen nicht an der Verjährung scheitern zu lassen, hat der Gesetzgeber nun die zivilrechtlichen Verjährungsfristen von drei auf 30 Jahre verlängert, vgl. § 197 Abs. 1 Nr. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) n.F. Anlass für die Reform haben sicherlich die im letzten Jahr bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in Internaten und kirchlichen Einrichtungen gegeben. Den Opfern dieser Fälle wird das neue Gesetz jedoch nicht helfen, da die Fristverlängerung nicht für bereits verjährte Forderungen gilt.

Es ist sinnvoll, dass damit nun zivilrechtliche Verjährungsfristen mindestens genauso lang laufen wie strafrechtliche. Brutale Körperverletzungen, versuchte Tötungsdelikte, Entführungen oder ähnliche Angriffe gegen Menschen können meist über zwei Jahrzehnte strafrechtlich verfolgt werden. Ist der Täter ermittelt und die Tat abgeurteilt, mussten Opfer oft feststellen, dass sie wegen der sehr kurzen zivilrechtlichen Verjährungsfrist keinen Schadensersatz bekommen konnten.

Rechtsfrieden kein Totschlagsargument gegen längere Verjährungsfristen

Stärker umstritten war der Änderungsbedarf bei der strafrechtlichen Verjährung. Experten stehen einer Ausweitung der Verjährungsfristen eher skeptisch gegenüber. Dabei kennen andere Rechtsordnungen eine strafrechtliche Verjährung zum Teil nicht einmal. Man muss daher durchaus darüber diskutieren, warum welche Taten wann verjähren sollten. Es genügt nicht, beliebte, aber wolkige Floskeln wie den „Rechtsfrieden“ anzuführen – vielmehr muss analysiert werden, welche gegenläufigen Interessen im Dreieck Täter, Opfer und Allgemeinheit bestehen, und welchen der Vorzug zu geben ist.

Das Interesse der Täter an ihrem persönlichen Frieden und das Interesse der Allgemeinheit an einem effizienten Einsatz von Ressourcen können sich umso eher durchsetzen, je leichter das Delikt ist und je weniger es höchstpersönliche Lebensbereiche betrifft. Das kann etwa bei einem Diebstahl oder einem Betrug der Fall sein. Bei schweren Delikten gegen das Leben, die körperliche Integrität und die sexuelle Selbstbestimmung wird aber das Interesse von Opfern an einer Ahndung des ihnen angetanen Unrechts ein Gewicht haben, das mit  kurzen Verjährungsfristen nicht vereinbar ist.

Die Interessen der Opfer müssen allerdings differenziert betrachtet werden. Trügerisch wäre die Erwartung, dass nach Jahrzehnten unkompliziert Genugtuung geleistet werden kann. Freisprüche oder Einstellungen nach einer Strafanzeige können eine erneute Belastung bedeuten. Eine unsichere Beweislage ist allerdings kein Grund für eine schnelle Verjährung. Auch in Altfällen sind Verurteilungen möglich, zum Beispiel, wenn es in einer Institution Mitwisser gab. Erforderlich wäre daher – was sich in der aktuellen Reform leider nicht findet – eine umfassende Rechtsberatung  für Anzeigewillige über die Chancen und Risiken eines Strafverfahrens.

Verlängerung der Fristen für die strafrechtliche Verjährung

Der Gesetzgeber hat schließlich auf den Vorschlag der Regierungsfraktionen im Rechtsausschuss des Bundestags hin auch die strafrechtliche Verjährung verlängert. Während bislang die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres eines Opfers von Sexualdelikten und einer Misshandlung als Schutzbefohlener ruhte, läuft nun die Frist erst ab dem 21. Lebensjahr des Opfers, vgl. § 78b Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) n.F. Den Betroffenen, deren Schicksal erst (zu) spät mediale Aufmerksamkeit fand, hilft das allerdings wenig.

Da nach dem BGB auch zuvor schon die Verjährungsfrist bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erst mit Vollendung des 21. Lebensjahr des Geschädigten zu laufen beginnt (§ 208 S. 1 BGB), war die Übernahme dieser Frist in das Strafgesetzbuch konsequent.

Hintergrund der Regelungen über das Ruhen von Verjährungsfristen ist, dass die Täter meist aus der Familie oder aus dem sozialen Umfeld des Opfers kommen. Das macht die Entscheidung für eine Strafanzeige besonders schwierig. Solange die Betroffenen von ihrer Familie abhängig sind, können sie kaum selbstbestimmt handeln. Solche Abhängigkeiten – Wohnen in der Familie oder Unterhaltszahlungen – bestehen vielfach auch nach dem 18. Lebensjahr.

Im Zivilrecht kann die Verjährung deshalb teilweise sogar noch länger gehemmt sein, nämlich solange eine häusliche Gemeinschaft besteht, vgl. § 208 S. 2 BGB. Vor diesem Hintergrund wären auch im Strafrecht längere Fristen wünschenswert, zumal traumatische Ereignisse im Kindesalter oft verdrängt werden, so dass sich Opfer erst in späteren Lebensphasen (etwa nach einer Therapie) an die Tat erinnern und eine Strafanzeige erwägen können, wie der jüngste Fall vor dem BGH zeigt. Das österreichische Strafrecht enthält bereits eine entsprechende Regelung (Ruhen bis zum 28. Lebensjahr, § 58 Abs. 3 Nr. 3 öStGB). Im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags hat sich die SPD-Fraktion dafür ausgesprochen, dass strafrechtliche Verjährung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahrs ruhen solle, aber leider mit diesem Vorschlag kein Gehör gefunden.

Die Autorin Prof. Dr. Tatjana Hörnle ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Quelle: http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/verjaehrung-sexueller-missbrauch-schmerzensgeld-strafrecht/