am 1. Juni erscheint als Rowohlt E-Book Only Macht. Sexualität. Gewalt. Gesellschaftliche, politische und pädagogische Konsequenzen aus den Missbrauchskandalen von Andreas Huckele. Der Text wird ausschließlich als E-Book erscheinen und in allen E-Book-Stores erhältlich sein.

Rezension von Beate Lindemann-Weyand, netzwerkB

2010 war das Jahr der Enthüllungen. Des Enthüllens der grausamen Wirklichkeit vieler Kinder und Jugendlicher, die in den unterschiedlichsten Institutionen unseres Landes sexualisierte Gewalt durch die erfahren hatten, denen sie eigentlich zu ihrem Schutz und Fürsorge anvertraut waren.

Eine dieser Institutionen, die Odenwaldschule, war bis dahin ein Vorzeigeobjekt. Einer anderen als der üblichen, einer Pädagogik, die das Kind und seine Bedürfnisse, seine Selbstbestimmung in den Vordergrund stellen sollte.

„…eine neue Pädagogik, ein neuer Mensch sollte geschaffen werden. Nach dem Ende des Nationalsozialismus schien das Erreichen dieses Ziels noch dringlicher, ein Scheitern galt es um jeden Preis zu verhindern.“

Zwei sehr mutige Betroffenen, die an dieser Schule sexualisierte Gewalt erfahren hatten, lösten die Welle der Enthüllungen, die über das Land hinweg flutete, aus.

Sie hatten bereits vor Jahren mit grossem Mut, damals schon unterstützt von einem beherzten Journalisten, versucht, auf die Verbrechen, die an dieser Schule systematisch und über viele Jahre an vielen Kindern und Jugendlichen verübt wurden, aufmerksam zu machen.

Es kristallisierten sich nach und nach zwei Namen heraus, der eine Name, der eines Betroffenen, der sich zuerst ein Pseudonym auferlegte, „Jürgen Dehmers“. Bekannt auch durch sein Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien“, das 2011 im Rowohltverlag erschien.

Der andere Name, der eines der vielen Täter, der von vielen Menschen verehrte Pädagoge und doch vor allem systematisch verbrecherischer Gewalttäter und Seelenmörder, „Gerold Becker“.

Wie viel Mut muss es kosten, sich gegen eine solche Schule, mit einem solchen Renommee, einer Schar von Jüngern in allen und vor allem gehobenen, auch einflussreichsten Kreisen dieser Republik- wie man auch aus mutigen Dokumentationen wie „ und wir sind nicht die Einzigen“ erfuhr- aufzulehnen.

Schulter an Schulter mit anderen Betroffenen – auch aus anderen Institutionen und Zusammenhängen, ohne das schmerzlich vermisste Sicherheitsnetz einer aufgeklärten, solidarischen und kindgerechten Gesellschaft – in ein Land, in eine Gesellschaft hineinzurufen, die 2010 erst anfing, sich überhaupt mit der sexualisierten Gewalttätigkeit gegenüber Kindern auseinanderzusetzen!

„Jürgen Dehmers“, der eigentlich Andreas Huckele heisst, hat sich entschieden das zu tun, und er tut es ein weiteres Mal mit diesem E-Book unter dem Titel

„Macht, Sexualität, Gewalt“

2010 das Jahr der Enthüllung der Wirklichkeit. Das wahre Gesicht kam in aller Deutlichkeit in Form der mutigen Betroffenen hinter den meterhohen Mauern der Institutionen und seiner Täter, hervor. Aufschreie gingen laut durch das Land. Alle Welt schien in Aufruhr.

In den Betroffenen, auch in den vielen, die nicht in Institutionen sexualisierte Gewalt erfahren hatten, die es in ihrer Familie durch die meist nahestehenden Täter erlebt hatten, sprangen auf einmal Hoffnungen auf, die vorher noch nicht einmal zu erahnen waren.

Vereist lasteten die Traumata der früher üblichen elterlichen Gewalt, des Nationalsozialismus, des Holocaust, der nicht aufgearbeiteten Traumata und Täterschuld auf den Seelen der Gesellschaft.

Aber nun endlich würde es passieren, würde diese Lawine der ihr Schweigen Brechenden immer mehr ans Licht bringen und es würde sich so vieles ändern.

„Nach diesem Frühjahr 2010 war eigentlich klar, dass die Odenwaldschule schliessen wird, schliessen muss…“

…“Ein Mahnmal hätte das Gebäude werden können, für den hundertfachen sexuellen Missbrauch unter der Flagge derer, die eine bessere Welt versprachen….“

Es geschah aber auf den ersten Blick etwas Absurdes und das wird gleichfalls bestätigt durch die eigene Wahrnehmung: dass sowohl in der Odenwaldschule, als auch an vielen anderen Orten, flächendeckend in unserem Land, überall wo Kinder sind – und das sind fast alle Orte, an denen ihnen sexualisierte Gewalt angetan werden kann – kaum etwas passiert ist, seit 2010.

Wie geht das, dass massenhaft Seelenmord an kostbaren Kinderseelen ausgeübt, so viel Gewalt ausgelebt wurde, und sich dann dennoch kaum etwas bewegt hat?

Und was ist heute, jetzt, mit den pädagogischen Institutionen, mit der Politik, den Mächtigen, mit den Verantwortlichen? Wer ist das überhaupt, die Gesellschaft? Sind wir das etwa alle? Haben wir alle mit sexualisierter Gewalt zu tun?

Jedes fünfte Kind ist Opfer von sexualisierter Gewalt, so die offiziellen Zahlen.

Warum sieht man das dann nicht, wenn es doch so viele sind?

Könnte das damit zu tun haben, dass sich die Tatenlosigkeit wie Eis über uns gelegt hat, uns hat erstarren lassen?

Dass wir unfähig sind hinzuschauen, und selbst wenn wir hinschauen, nicht wissen, was mir mit dem was wir sehen machen sollen? Und wir es daraufhin wegschieben, abschieben und verdrängen?

„Es war nicht mehr möglich wegzuschauen. Es war für viele aber nach einiger Zeit auch nicht mehr möglich hinzuschauen. Der Schock war gross, der Horror war gross, das Bild war gross. Eine Gesellschaft ERSTARRTE.“

Sind es etwa nicht nur die Opfer, die Betroffenen, die erstarren, wenn der oder die Täterin seine Macht ausübt, die er/sie unweigerlich hat, weil er/sie immer größer, immer älter, immer erwachsen ist, im Gegensatz zum Kind, zum Jugendlichen, zum Schutzbefohlenen?

Sind es nicht nur die Opfer, die Betroffenen, die im Schweigen leben, weil sie einst überwältigt wurden und ihre natürliche Entfaltung durch die Gewalttat brutal zusammengedrückt wurde wie ein Schmetterling in der Faust?

Überall da wo sexualisierte Gewalt gegen Kinder passiert, scheinen diese Enthüllungs- versus Verhüllungs-vorgänge zu „passieren“.

Andreas Huckele fragt:

…“Handelt es sich bei der Mehrheit um ein politisches Kartell? Finden hier Absprachen zwischen den Parteien statt, die Modifizierung der Gesetzgebung zu sabotieren? Sind die Täter in den eigenen Reihen zu mächtig? Was würde passieren, wenn die Betroffenen sexualisierter Gewalt ihre Interessen politisch wahrnehmen würden?“

Denn:

„Die verdrängten eigenen Erlebnisse und die Scham sind die besten Verbündeten der Täter und ihrer Lobby. Nach wie vor. Doch was ist eine Demokratie wert, die sich als unfähig erweist, die Kinderrechte durchzusetzen und damit ihre schwächsten Bürger zu schützen?“

Man fragt sich beim Lesen: wie kann das sein, dass die Gesellschaft weiterhin erfüllt von Schweigen und Leerplätze geblieben ist? Denn, ist es wirklich Sprechen, wenn von „Hinschauen“ gesprochen wird, von „Handeln“ wenn wieder sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen passiert ist, wie das was an der Odenwaldschule nur durch das mutige Handeln zweier Opfer ans Licht kam?

Es wurde doch diese Lawine ausgelöst, und das Gefühl es würde sich jetzt endlich etwas bewegen.

Wir, die Gesellschaft würden jetzt aufwachen, als nach und nach immer mehr inzwischen Erwachsene anfingen ihr Schweigen zu brechen, ob auf der Odenwaldschule jahrelang zum Schweigen verurteilt, oder in anderen, zum Beispiel den kirchlichen Institutionen oder den Kinderheimen.

Was passierte seit 2010 in den Schulen und Internaten, in Heimen und vielen anderen Institutionen übergreifend, welche Konzepte wurden angelegt, welche Vernetzungen wurden als Konsequenz aus der nun bekannten, endlich erfassbaren grausamen Stille der nach außen lautlosen sexualisierten Gewalt gegen unsere Kinder, geschaffen?

„Die Welle der Berichterstattung liess nach und die entscheidenden Handlungen, die zu einem zukünftigen Schutz der Kinder in Deutschland vor sexualisierter Gewalt hätten führen können, blieben aus.“

Beim Lesen bestätigen die eigenen inneren Schocks den Stillstand, den man selbst unter Umständen in den zurückliegenden Jahren innerhalb der Gesellschaft feststellte, und es fällt nicht mehr schwer zu glauben:

„Es gibt kein Dazwischen. Wer sich als Politiker und verantwortlicher Akteur in den einzelnen Arbeitsbereichen nicht für die Opfer von gestern und die Kinder von heute und morgen einsetzt, ergreift Partei für die Täter und deren Lobby.“

Was aber wäre hilfreich und:

„Und was können einzelne Menschen tun, um der sexuellen Gewalt gegen Kinder etwas entgegenzusetzen, um sofort etwas für Kinder zu tun, bis der gesellschaftliche Prozess, welcher strukturelle Veränderungen beinhaltet, Fahrt aufgenommen hat, um die sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Deutschland einzudämmen?“

„… bis die Verjährungsfristen aufgehoben sind und die Serientäter festgesetzt werden? Bis die Meldepflicht für sexualisierte Gewalt eingeführt wird um die Täter zu stoppen? Bis die Gutachter soweit qualifiziert sind, dass die traumaspezifischen Aspekte tatsächlich in den Gutachten von Gerichtsverfahren Berücksichtigung finden? Bis das pädagogische Personal soweit geschult ist, dass es die misshandelten Kinder erkennt und zu deren Schutz interveniert?“

Die Politik steht überall am Ort des Geschehens, sie sollte eigentlich die Strukturen schaffen, in denen Kinderschutz und mündige Betroffenensolidarität an erster Stelle stehen. Nicht die Bequemlichkeit das Feld des „davor, währen und danach“ der sexualisierten Gewalt der Initiative der Kinder und Betroffenen allein und ungeschützt zu überlassen. Nur mit unprofessionellen Hilfen ausgerüstet, mit jahrzehntelang erprobt inadäquaten Präventionsmassnahmen und Almosen-Krümeln-die, wenn überhaupt vorbeigehen an schwer verletzten und beraubte Seelen und Körpern.

„Im Frühjahr 2010 wurde der Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch von gleich drei Bundesministerinnen..“…. “ ins Leben gerufen. Der erste Satz auf der Homepage des Runden Tisches dient der Kultivierung der Lüge: Kinder stehen in unserem Land unter besonderem Schutz. In den Ohren der Misshandelten kann das nur zynisch klingen.“

Andreas Huckele hält allen den Spiegel vor, schont niemanden, denn in der Tat ist es die ganze Gesellschaft, die verantwortlich ist.

„Wenn man an einen Unfallort kommt und eine schwerverletzte Person vorfindet, kann man sich nicht mehr nicht verhalten. Man hilft oder man hilft nicht. Es gibt kein Dazwischen.“

„Helfen wir unseren Kindern oder sind sie uns egal?“

Spaltung und Verdrängung findet überall dort statt, wo Menschen sind, Menschen, die als Kinder Traumatisches erlebt haben und nun nicht mehr in der Lage sind zu bewältigen:

…“der Polizeibeamte nimmt eine Strafanzeige auf, der Arzt untersucht ein misshandeltes Kind, oder die Psychotherapeutin hört das Anliegen eines Klienten….“

„Im günstigen Fall bearbeiten diese dann selbst ihre eigenen traumatischen Erfahrungen mit einem geeigneten psychotraumatologischen Verfahren.“

Immer wieder müssen wir auf diese Weise sehen, dass das Schockierende, das Schreckliche, das, was nicht sein darf, doch immer noch ist, und wie selbstverständlich Seite an Seite mit uns lebt, als würden wir dem noch ein gemütliches Lager an unserer Seite bereiten, als würden wir nicht zutiefst erschüttert sein müssen und spätestens nach 2010 alles rausgeschmissen haben was uns von unserer Verantwortung gegenüber unseren Kindern vorher trennte!

Andreas Huckele hilft uns eine Antwort zu finden auf die Frage, was wir jetzt als Allererstes tun könnten! Es ist eine so einfache Antwort, und gleichzeitig so schwierig, dass wir vielleicht – aber das will wohl niemand hoffen – in drei Jahren wieder sagen müssen, dass nichts passiert ist!

Wir sollten dabei aber immer im Auge und vor allem auch im Herzen behalten, dass das bedeuten würde, dass wir uns in die Tasche lügen und das hat für viele Kinder und Betroffene existenziellste Folgen!

Wir werden an die Hand genommen, haben keine Chance auszuweichen vor dem was Andreas Huckele in seiner klaren, klugen und nie zynischen Sprache vor unsere Augen stellt. Beispiele, die niemanden kalt lassen können, denen jeder auf die eine oder andere Weise in seinem Leben begegnet.

Andreas Huckeles E-Book ist eine klare Analyse, eine erschütternde Analyse. Sie zieht sich wie die Erstarrung als roter Faden durch unser aller Leben hindurch, zeigt uns auf, was wir wissen und doch nicht sehen, zeigt uns auf, was wir längst hätten ändern müssen und vor Schreck erstarrt liegen gelassen haben, aus sicherlich unterschiedlichsten Gründen mit den leider gleichen Ergebnissen: Serientäter können weiter beschützt durch Gesetz und Mächtige ihr Unwesen treiben, Kinder erstarren weiter alleingelassen in Todesangst in den Zimmern von Institutionen und Familien. Auch Betroffene werden liegen gelassen und mit ein paar warmen Worten und Sachleistungen abgespeist in der Hoffnung, dass weiterhin erstarrt geschwiegen wird.

In diesem Text ist ein weiser Aufruf der Hoffnung laut zu hören, es KANN, wenn wir es wollen ein Weckruf sein, denn er bietet uns allen Lösungen an, Möglichkeiten und gangbare Wege.

Diese können wir aber nur gehen, wenn wir mutig sind, jeder einzelne dieser Gesellschaft, jede Institution, wenn sich der Einzelne entscheidet sich aus seiner Erstarrung und Blindheit zu lösen und wir uns vernetzen.

Der einzig mögliche Anfang aus dem für Kinderseelen tödlichen Desaster herauszukommen ist:

„Die radikale Akzeptanz der Tatsachen“

„Von jedem Einzelnen. Von uns allen gemeinsam. Auch wenn es schmerzhaft ist. Auch wenn es die totale Ohnmacht erzeugt. „ Das ist alles besser als zu den alten Lügen zurückzukehren, wie es leider vielerorts als hilfloses Unternehmen beobachtet werden kann“

Andreas Huckele, lässt die Erstarrung auftauen, wieder mitfühlen und Zusammenhänge begreifen, die, obwohl man davor steht immer wieder zu einem offenes Geheimnis, selbstverordneter Blindheit führen, wenn sich jeder Einzelne nicht zu Herzen nimmt, was eigentlich, aber auch leider nur bisher „eigentlich“ selbstverständlich sein müsste!

Eine besonders wichtige Pflichtlektüre für alle Erwachsenen, für jeden, der mit Kindern zu tun hat, also für uns alle!


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