von Eugen Schlatter, Mitglied bei netzwerkB

Immer wieder habe ich in einschlägigen Texten zu sexualisierter Gewalt zu lesen „Missbrauch geschieht / passiert etc.“, als wären dies „Ereignisse durch höhere Gewalt“. Nein: sexualisierte Gewalt „passiert“ nicht, sie wird begangen von einem Täter mit menschenverachtender krimineller Energie, und sie wird begangen an einem Opfer, für welches nach dieser Gewalterfahrung nichts mehr ist wie vorher: Das Opfer kann und darf seiner Wahrnehmung nicht mehr trauen, hat es doch unausweichlich wahrnehmen und erfahren müssen, dass mit seiner Integrität Schindluder getrieben wurde, dass es zum zweifelhaften Vergnügen eines abartigen Täters herhalten musste und dass über dieses Opfer auf würdeloseste Art und Weise verfügt wurde. Das Opfer darf seiner Wahrnehmung nicht mehr trauen, weil es dann geradezu „verrückt werden“ würde ob der Tatsache, dass es erfahren musste, kein nach etablierten und international verbindlichen Standards unveräußerliches Recht auf seine Integrität mehr zu besitzen. Überdies ist diese Diktion Tätersprache, mit der versucht wird, die Tat „sanfter“ und weniger brutal erscheinen zu lassen und das Leid des Opfers in Frage zu stellen oder gar zu begatellisieren. Wir sollten es uns selber schuldig sein, ja mehr noch: schon aus Gründen der Selbstachtung sollten wir es unterlassen, uns auch noch verharmlosender Tätersprache zu bedienen. Nein, wir nennen die Dinge klar, direkt und verbindlich beim Namen.

Meine Forderung lautet deswegen: Wir – zumindest wir auf der Seite der von sexualisierter Gewalt Betroffener – sprechen nicht mehr so diffus, verharmlosend und unverbindlich über „Gewalt, die geschieht bzw. an uns geschehen ist“, sondern wir sprechen in aller Schärfe und Klarheit davon und klagen an: da hat ein Täter das übelste Verbrechen, das es in der menschlichen Gesellschaft gibt, an einem wehrlosen Opfer begangen, hat sich für das Verüben dieser Tat explizit entschieden, ist vollumfänglich dafür verantwortlich und hat verursacht, dass das Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit sein gesamtes restliches Leben emotional mit dieser Traumatisierung zu tun haben wird. Gerade im Sinne der Betroffenen halte ich es für unabdingbar erforderlich, dass wir uns eines angemessenen Sprachgebrauchs befleißigen, welcher der verletzten Würde, dem Leiden, den Gefühlen und der nachhaltig beschädigten Biographie einschlägiger Betroffener Rechnung trägt.

Gedanken zum diesem Artikel – viel breiter und ausführlicher an einer Vielzahl bedrückender Beispiele dargestellt – finden sich auch im Buch „Der verlorene Kampf um die Wörter, opferfeindliche Sprache bei sexualisierter Gewalt“ von Monika Gerstendörfer, Junfermann-Verlag, Paderborn, 2007; ISBN 978-3-87387-641-5.

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