Begegnungen

So viele Einzelgespräche – manche nur kurz und im Vorbeigehen. Andere länger und intensiv.

Manche schon fast Streitgespräche, andere tiefe Übereinstimmung.

Viele Menschen gingen an unserem Stand vorbei – schielten rüber – ohne uns direkt anzusehen, wollten auch nicht angesprochen werden.

Anders die Kinder – meist  war da Neugierde –die Ballons schon von weitem anvisierend. Freude dann, wenn sie den Ballon erhielten.

Oft waren es gerade die Eltern, die mehr wissen wollten, die schockiert waren herauszufinden, dass wir in Deutschland Verjährungsfristen in Fällen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder haben. Während der Gespräche dann oft ein besorgter  Blick auf die Kleinen im Kinderwagen. Für die Eltern war es klar, dass Gewalt gegen Kinder ein  Verbrechen ist und als solches behandelt werden sollte. Ein Vergehen ist doch was eher Geringfügiges.

Manche kamen zu uns rüber und erzählten ihre Lebensgeschichten nachdem sie rausgefunden hatten, was unsere Thematik war. Als wären sie hungrig nach einem, der einfach mal zuhört. Oft eine Geschichte von Leben, die nicht so recht gelingen wollten: Arbeitslosigkeit, Hartz lV, Krankheiten, Beziehungen kaputt, Schwierigkeiten  die Wohnung zu behalten. Aussichtslosigkeit – nichts über ihre Kindheit, nur eben über ein Leben heute, was aber schon lange aus den Fugen geraten war.

Ich weiß jetzt auch, warum Leute mit Plastiktüten und langen Metallhaken auf der Königsstrasse flanieren – sie checken die Auffangbehältnisse der Abfalleimer für Pfandflaschen. Die Flaschen die in den Abfalleimer neben unserem Stand geworfen wurden, waren jedes Mal gleich wieder rausgefischt. Ich habe meine leere Wasserflasche einfach daneben gestellt.

Gleich am ersten Tag eine Begegnung die mich tief bewegte. Eine junge Frau mit einer kleinen Tochter, so um die drei Jahre alt. Dunkler Lockenkopf, aufgeweckt, freute sich über den Ballon, den sie mit ihren kleinen Händen festhielt.

Die Mutter war sehr interessiert an unserem Flyer. Sie meinte dann, ihre Familie sei auch betroffen: der mittlerweile Ex-Ehemann habe die Tochter missbraucht. Die junge Mutter berichtete dann, wie schwierig es gewesen war, Gehör für ihre Besorgnisse zu finden. Es war ein Kampf mit genau den Institutionen, von denen sie ursprünglich erwartet hatte, dass sie dem Kind und ihr helfen würden. Statt dessen wurde sie als hysterische Mutter behandelt, man drohte ihr das Kind wegzunehmen. Nach der Scheidung hatte der Vater/Täter zunächst das Recht auf unbeaufsichtigte Besuchszeiten, sie kämpfte es durch, dass das nur noch unter Supervision geschehen würde. Sie stünde jetzt aber ganz alleine da, da der Rest der Familie zum Vater halte.

Zum Abschluss meinte sie: „Ich dachte, wir hätten ein gutes Hilfssystem hier. Bis ich es dann brauchte.“

Diese Begegnung gab mir Kraft. Deswegen machen wir diese Arbeit. Und deswegen behalten wir einen langen Atem. Und deswegen muss die Arbeit weitergehen, bis wir in Deutschland bessere Gesetze und Institutionen haben.

Da war dann ein Mann im Rollstuhl. Fit aussehend, sportlich, wache Augen mit Lachfalten drumherum.

Ich hätte nicht gedacht, dass er schon  einen Sohn von 42 Jahren hatte. Er erzählte, dass er als Heimkind aufgewachsen war – ohne Details, so das Übliche, sie wissen ja schon. Und schon damals hatte er sich geschworen, dass er in seinem Leben das besser machen würde und wenn er je Kinder hätte, würden die keine Gewalt von ihm erfahren.

Er hat es tatsächlich geschafft  seine Kinder ohne Schlagen und Missbrauch großzuziehen. Er ist stolz auf seine Familie und auf seine Söhne, die wiederum ihre eigenen Kinder gewaltfrei erziehen.

Manchmal fingen Gespräche schon am Bahnhof an. Ich wartete auf meinen  Zug und wurde nach Verbindungen zu x gefragt. Wir kamen ins Gespräch. Er war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Vier Wochen. Er war Holzfäller von Beruf, hatte einen Herzinfarkt. Dann gingen die Probleme los. Geld knapp, Finanzamtszahlungen spät. Dann der zweite Infarkt, Krankenhaus, Reha. Dann Gefängnis weil er mit seinen Zahlungen heillos hinterher war. Er sagte in seinem Block waren nur solche Fälle. Die Wärter wären aber eher nett gewesen.

Wir sprachen auch mit erstaunlich vielen jungen Männern. Vom Alter her noch lange vor der Familienphase, suchten sie das Gespräch mit uns, stellten Fragen, wollten verstehen, Zusammenhänge erfassen. Viele nahmen den Flyer mit und wollten sich noch weiter auf der Webseite informieren.

Es gab auch schwierige Gesprächspartner. Menschen, die einfach nicht akzeptieren wollten, dass Verbrechen an Kindern nicht verjähren sollten. Das Gespenst des Rechtsfriedens wurde öfter zitiert. ‚Ja aber‘ hieß es dann, wenn wir sagten, dass Betroffene im Grunde ein ‚lebenslänglich‘ haben.

Auch abstruses wurde zitiert: „solange die Täter wissen, dass sie nicht ewig verfolgt werden können, lassen sie die Opfer wenigstens leben.“ Da wussten wir manchmal nicht gleich, was wir darauf sagen könnten.

Auch einige, die selbst eher wütend waren und für die Todesstrafe plädieren wollten. Gewaltfreiheit als Konzept – vor allem in diesem Zusammenhang – war schwierig zu verstehen.

Viele, die es so gar nicht verstehen konnten, dass Opfer manchmal viele Jahre brauchen bevor sie über die erlittene Gewalt sprechen können. Manche können das ja nie. Manchmal kamen wir uns vor als würden wir uns den Mund fusselig reden.

Erfrischend dagegen das kurze Gespräch mit zwei jungen Mädchen am letzten Tag unseres Infostandes. Wir waren schon am Abbauen, aber sie wollten wissen um was es hier ging. So gaben wir ihnen unsere jetzt schon routinierte Kurzzusammenfassung. Zum Thema Verjährungsfristen abschaffen meinten sie lapidar und direkt: „Ja natürlich darf es da keine Verjährungsfristen geben.

Wir werden nächstes Jahr wieder auf der Königstraße stehen.

Marcella Becker

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