Erschreckend hoch sind angloamerikanische, und deutscher Studien zu Folgen die Dunkelziffern bei sexualisierter Gewalt gegen behinderte Kinder.

Von Beate Lindemann-Weyand

Wie kommt es dazu, dass diese Zahlen so schwer zu erheben sind?

Zum einen sind Befragungen der Menschen mit Behinderungen oft anders zu gestalten als die von Menschen ohne Behinderung.  Zum anderen fehlt es an einer Lobby, für die ohnehin erschreckend am Rande unserer Gesellschaft untergebrachten Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen.

Außerdem dürften sich für Menschen mit Behinderung die gleichen Folgen resultierend aus der sexualisierten Gewalt, ergeben, wie z.B. Amnesien und andere Möglichkeiten, die Taten zu Gunsten des Überlebens zu verdrängen.

Um die am eigenen Leib erfahrenen Übergriffe überhaupt erst als solche einordnen zu können, fehlt es Menschen und noch mehr Kindern mit Behinderung oft an der nötigen Aufklärung.

Täter in Institutionen in denen sich Menschen mit Behinderungen aufhalten, gehen ebenso perfide vor, wie es Täter in anderen Institutionen tun- aber sie haben es durch die Einschränkungen ihrer Opfer und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen leichter ihre Verbrechen zu begehen. Daher sprechen Fachleute auch von einer erhöhten Gefahr für Menschen mit Behinderung Opfer von Übergriffen zu werden.

Die Umstände unter denen Menschen mit Behinderung in unserem Land leben, spiegeln oftmals die Rollen wider, die wir ihnen am Rande der Gesellschaft zugedacht haben. Die Isolation, und weitere verdrängende Faktoren in der sich nichtbehinderte Kinder in ihren Familien oder in Institutionen und innerhalb der Gesellschaft befinden, reichen wie wir wissen aus, um eine hohe Dunkelziffer nicht angezeigter, nicht gestoppter sexueller Übergriffe zu vermuten. Kinder mit Behinderungen sind zusätzlichen Faktoren ausgesetzt. Die verzweifelte Lage in der sich viele Menschen mit Behinderung ohnehin oftmals befinden, trägt ihren Teil dazu bei, dass viele dieser Kinder völlig hilflos den Tätern ausgeliefert sind, die weitestgehend ungestört ihre Übergriffe planen und ausführen können.

Nähe wider Willen

Kinder mit Behinderungen sind oft schon früh in ihrem Leben auf Pflege, Physiotherapien und Untersuchungen durch andere Menschen angewiesen. Sie müssen sich gezwungenermaßen daran gewöhnen, sich an ihrem Körper berühren zu lassen. Oft haben sie auch nicht die Wahl sich von einem Mann oder einer Frau berühren zu lassen, oder überhaupt einem Menschen, mit dem sie sich wohlfühlen. ..„dass es behinderten  Frauen, die in Heimen „lebten nicht möglich sei, „Einfluss darauf zu nehmen wer sie pflegt, geschweige denn darauf, dass die Pflege im Intimbereich von einer  Frau ausgeführt werden soll.“ (Monika Becker „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen mit geistiger Behinderung“, 1995, Seite 89, Zitat Anneliese Mayer)

Auch können die pflegerischen, ärztlichen Prozeduren oft schmerzhaft und unangenehm sein, ohne dass die Möglichkeit besteht, sich diesen Maßnahmen zu entziehen.

„Ihnen wird so die Entscheidungsfreiheit und das eigene Gefühl dafür genommen, was gut für sie ist und was nicht“ (Bärbel Mickler, „Sexualisierte Gewalt verhindern- Selbstbestimmung ermöglichen“ AMYNA, S. 29, 2009)

Oft spalten sich diese Kinder auch ohne dass sie Opfer von sexualisierte Gewalt wurden  schon früh von ihrem Körper ab, um nicht wahrzunehmen, was an ihnen an pflegerischen Maß nahmen vorgenommen wird.

Kommt es zum sexuellen Gewaltübergriff sind die Kinder durch die Erfahrungen der zwangsweisen Berührungen seit frühester Kindheit zum Beispiel oft außer Stande einen sexuellen Übergriff von den anderen unfreiwilligen Berührungen offensichtlich abzugrenzen.

Eine Vielfalt an Faktoren, die sexualisierte Gewalt und deren Geheimhaltung unterstützen, kommt hinzu, wie z.B. die Isolation von den Eltern durch eine Unterbringung im Heim.

Die Eltern von Kindern mit Behinderungen sind oft mit den Kindern überfordert, und froh diese in guten Händen einer speziellen Einrichtung zu wissen. „Erzähle es Deiner Mutter nicht oder möchtest Du, dass es ihr schlechter geht“ (Bärbel Mickler, „Sex. Gewalt verhindern- Selbstbest. Ermögl.“ AMYNA, S. 29, 2009)

Ohnehin ist auch schon für Kinder ohne Behinderung aus vielfältigen Gründen die Fähigkeit eingeschränkt über das Erlebte zu sprechen. Bei Kindern mit Behinderungen kann zusätzlich die Fähigkeit sich sprachlich auszudrücken auf Grund einer Behinderung gänzlich beeinträchtigt sein. Laut einer Studie aus dem Jahr 1987 (Sullivan, Vernon, Scanlan) wurden nahezu 50 Prozent der gehörlosen Kinder Opfer von sexualisierter Gewalt. Täter und Täterinnen machten sich „die besondere Situation von Mädchen und Jungen mit Behinderungen“ zu nutze. (Adelheid Unterstaller, „Sex. Gewalt verhindern- Selbstbest. Ermögl.“, AMYNA,S.15,2009)

Äußerungen werden oft nicht ernst genommen

Selbst wenn sich Kinder mit Behinderungen schließlich äußern, werden ihre Äußerungen meist nicht als Hinweise auf einen Übergriff wahrgenommen. Oftmals treffen sie auf gesellschaftlich existierende Mythen über Menschen mit Behinderung. Es herrschen in unserer sich wenig differenziert mit Behinderungen auseinandersetzenden Gesellschaft viele Missverständnisse. Menschen die sich sprachlich z.B. nicht so deutlich artikulieren können, drücken sich oft stärker körperlich aus- aber alleine schon diese körperlichen Äußerungen werden z.B. von Menschen, die ansonsten kaum mit Menschen mit Behinderungen zusammentreffen, als unangebracht, gar als unangenehm, zu körperlich, zu nah, empfunden. Das eigentlich wichtige Signal welches mit dieser Äußerung aber ausgedrückt wird, wird daher oftmals gar nicht erst in Betracht gezogen.

„Es gibt dabei immer wieder die Erfahrung, dass Signale und Äußerungen gewaltbetroffener behinderter Menschen nicht als Hinweis auf sexuelle Gewalt, sondern als Auswirkung der Behinderung interpretiert werden. So genannte Distanzlosigkeit oder sexuelle Überaktivität werden zum Beispiel bei gewaltbetroffenen Menschen mit Lernschwierigkeiten üblicherweise als Symptom ihrer Behinderung gesehen.“ (Bärbel Mickler, „Sex. Gewalt verh.-Selbstbest. Ermögl.“ AMYNA, 2009)

Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zeigen ebenso wie nicht von Behinderung betroffene Kinder oft deutliche Hinweise auf den Übergriff. Das sexuelle Ausagieren ist oft eine direkte Folge des Übergriffes- denn nun inszeniert das Kind den Übergriff nach, da die sexualisierte Gewalt der Täter mit unerträglich starken Impulsen auf es einwirkte, die es versucht körperlich abzureagieren. Ein Kind legt auch sexualisiertes Verhalten gegenüber anderen an den Tag, weil es durch den Täter vielleicht sogar verbal vermittelt bekam, dass dies ein erwünschtes Verhalten sei. In jedem Fall wäre es wichtig, diese körperliche Äußerung bei Kindern mit Behinderung wahrzunehmen und der Ursache auf den Grund zu gehen.

Wird in einem der seltenen Fälle, dass einem Kind geglaubt wird, angezeigt und landet der Fall gar vor Gericht, scheitern die meisten Klagen, da nicht nur Kindern grundsätzlich und eklatant weniger geglaubt wird als Erwachsenen, sondern auch und gerade Kindern mit Behinderung. Dies beruht nicht selten auf der Schwierigkeit und mangelnden Flexibilität der Justiz mit den vielfältigen Beeinträchtigungen der Kinder umzugehen, wie es der Fall des 17 Jährigen Tobias zeigt:
http://www.derwesten.de/region/rhein_ruhr/missbrauch-behinderte-opfer-werden-oftmals-nicht-gehoert-id9296135.html (am 08.05.2014)

Das Thema „Behinderung und sexualisierte Gewalt“ gehört dringend in die Mitte, und damit in den Fokus unserer Gesellschaft. Eine erhöhte Aufmerksamkeit Einzelner, aber auch der ganzer Institutionen führt letztendlich dazu, dass auch die vielen Kinder und Jugendlichen mit den unterschiedlichsten Behinderungen nicht nur besser geschützt werden könnten, sondern auch endlich in ihrer Würde auf Augenhöhe gesehen und ernst genommen würden.