(MDR Unter uns 17.02.2006, v.l. Norbert Denef, Irina Vogt, Ulrike Nitzschke)

Am 5. Dezember 2005 wurde die Geschichte von Norbert Denef im SPIEGEL veröffentlicht. Danach hat das Fernsehen darüber berichtet. MDR ‚Unter uns‘, am 17.02.2006, war die erste live Sendung mit Norbert Denef. Nach neun Jahren ist er wieder bei MDR ‚Unter uns‘, mit seiner Tochter, am 9. Januar 2015 um 22:00 Uhr.

Nachfolgend das Kapitel ‚MDR – UNTER UNS‘, über die Sendung vom 17.02 2006, aus seinem Buch „Alles muss raus“:

In Magdeburg am späten Nachmittag angekommen, sind wir ins Hotel gefahren und haben uns dort mit der Therapeutin getroffen, die dem Institut angehörte, welches ich seiner Zeit für die Delitzscher Notfälle beauftragt hatte, für den Fall, dass sich jemand umbringen wollte, wie bereits im Kapitel „Was ist, wenn sich jemand umbringt?“ beschrieben.

Zwischenzeitlich kannten wir uns recht gut, denn sie begleitete mich auch während der Dreharbeiten mit ARD BRISANT, und der Konfrontation mit dem zweiten Täter, wie in meinem Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“ im Kapitel „Konfrontation“ beschrieben. Kurz zuvor hatte sie mich in Frankfurt besucht, um alles zu besprechen, denn für sie war der Auftritt vor der Kamera auch das erste Mal. Wir freundeten uns an, waren schnell per Du und hatten ein gemeinsames Ziel: Dem Tabuthema sexualisierte  Gewalt in der Öffentlichkeit ein Gesicht geben.

Irina, so hieß die Therapeutin, wollte ich unbedingt in der Sendung „Unter uns“ dabei haben, um fachliche und sachliche Unterstützung zu bekommen, denn so bekam das was ich sagte mehr Gewicht. Im Hotel besprachen wir kurz unsere Strategie für die Sendung, wer wann was sagen sollte.

Bevor eine solche Sendung über die Bühne geht, gibt es in der Regel Vorgespräche. Diesbezüglich traf ich mich mit einem Redakteur einige Wochen vor der Sendung in Frankfurt/M. Wir verabredeten uns im Hauptbahnhof in der Erste-Klasse-Lounge, in der Reisende abgeschirmt von der Außenwelt in Ruhe Zeit verbringen können. Er befragte mich ausführlich und machte sich Notizen. Dass meine Frau für die Zuschauer sichtbar neben mir einen Platz bekommen sollte, war kein Problem für ihn, im Gegenteil, dies war sogar erwünscht. Die Therapeutin dagegen stellte ein Problem dar, was er noch mit der Redaktionsleitung besprechen müsse, sagte er. Ich erwiderte, dass ich darauf bestehen würde und ich nur in die Sendung käme mit der Therapeutin. Wenige Tage nach unserem Gespräch bekam ich eine Zusage, dass meine Forderung akzeptiert wurde.

Irina sah müde und abgespannt aus, da sie Tage zuvor viel gearbeitet hatte. Wir waren dennoch guter Dinge und ließen uns vom Hotel zu der Gaststätte fahren, in der die Live-Sendung stattfinden sollte. Die Räumlichkeiten waren dort sehr klein und als wir ankamen, war der Gästebereich bereits mit Besuchern gefüllt. Zunächst mussten wir in die Maske, damit man für die Fernsehzuschauer ein besseres Aussehen bekommt. Irina kam aus der Maske zurück und wir konnten gar nicht glauben, dass sie es war. Man hatte ihr mit Schminke ein Gesicht verpasst, in dem keine Spur von Müdigkeit und Abgespanntheit mehr zu sehen war. Wir hatten viel Spaß mit diesem ‘Maskentheater‘.

Zwischenzeitlich hatte ich ein Vorgespräch mit der Moderatorin, die mich in der Sendung befragen sollte. Die Redaktionsleitung hätte sie angewiesen, sagte sie, dass sie mich keine unmittelbaren Dinge zum Tatgeschehen fragen solle und eine prominente Freundin von ihr, die angeblich auch sexualisierte Gewalt erlebt haben soll, hätte ihr auch geraten, mich diesbezüglich nicht zu befragen. Daraufhin sagte ich ihr spontan, dass das falsch sei und sie mich genau das fragen solle.

Ich erzählte ihr die Geschichte von Harry Belafonte, die ich vor vielen Jahren in meiner Zeit der Alten Oper erlebt hatte. Zum Opernball in der Frankfurter Alten Oper trafen sich in den 80iger Jahren die Reichen und die Schönen. Als Stargast war Harry Belafonte angesagt. Hinter der Bühne herrschte große Aufregung, denn man hatte vertraglich festgelegt welche Lieder er singen durfte. Eher dem Publikum angepasste sollten es sein und nicht so politische. Ich hatte an diesem Tag Dienst und als ich am Nachmittag beim Pförtner reinging stand er da, Harry Belafonte, neben mir. Ich habe viele weltberühmte Künstler persönlich kennen gelernt in meiner Theaterzeit – er war für mich einer der Größten, nicht nur in seiner körperlichen Erscheinung, sondern seine Ausstrahlung hat mich überzeugt, bis heute wirkt diese Begegnung nach.

Für die ‘Reichen und Schönen‘ wurden auf der Tanzfläche in der Mitte des Saales Teppichrollen ausgelegt, worauf sie Platz nahmen. Es sah lustig aus, wenn die Damen mit ihren teuren Kleidern und die Herren im Smoking oder auch Frack auf dem Fußboden saßen. Hinter der Bühne waren der Chef des Hauses und der künstlerische Leiter. Mit Spannung warteten sie darauf, ob Harry Belafonte wie vereinbart die vertraglich genehmigten Lieder singen würde. Er stand auf der Bühne und fing an zu singen. Nach kurzer Zeit standen alle ‘Reichen und Schönen‘ im Saal und vergaßen ihre Kostümierung. Harry Belafonte sang anfänglich die vereinbarten Lieder, doch je mehr Begeisterung im Saal zu spüren war, nur noch politische Lieder. Er hielt sich nicht an die Abmachung. Der Saal tobte. So einen mutigen Menschen wie Harry Belafonte werde ich niemals vergessen. Er hatte die Menschen erreicht, trotz ‘Maskentheater‘.
Diese Geschichte erzählte ich der Moderatorin und versprach, ganz so schlimm wird es mit mir nicht werden. Ich wollte sie beruhigen, denn ich spürte, dass sie sehr aufgeregt war.

Nun wusste ich, dass die Befragung darauf angelegt war, ja nicht den Zuschauer zu erschrecken und es sollte nur an der Oberfläche gekratzt werden, um das Thema möglichst schnell wieder mit dem Deckmantel des Schweigens zu beenden. Hinzu kam noch, dass Irina zu mir kam und mir mitteilte, dass wir nach unserem Gespräch nicht mehr im Bild gezeigt werden sollten. Unser Auftritt sollte so schnell wie möglich abgewickelt werden. Dagegen sollte ich unbedingt etwas unternehmen, sagte Irina. Das war 30 Minuten vor der Live-Sendung. Die Technik und ganz besonders die Beleuchtung, waren voll eingerichtet und Veränderungen in so kurzer Zeit erschienen unmöglich. Im Fernsehen sind alle Positionen vorher genau ausgeleuchtet. Jeder Stuhl hatte seinen bestimmten Platz und war mit Klebeband am Boden markiert. Und nun kam ich und sagte:

So geht das nicht: Wir müssen von Anfang bis Ende im Bild zu sehen sein besonders auch noch nach unserem Auftritt.“

Die Beleuchtungschefin lehnte ab und sagte, das ginge nicht mehr einzurichten. Daraufhin bat ich um ein Gespräch mit dem Technischen Leiter. Er merkte sehr schnell, dass ich meinen Willen durchsetzen und gegebenenfalls lieber nicht in der Sendung auftreten würde. Das war bei einer Live-Sendung schwere Kost. Ich sagte zu ihm, dass ich fest davon überzeugt sei, dass er eine Lösung finden werde, damit wir auch nach unserem Auftritt noch im Bild zu sehen seien. Zwanzig Minuten später, also zehn Minuten vor der Sendung, kam er und sagte, er hätte eine Lösung gefunden, die allerdings nicht so einfach sei. Irina müsse für wenige Minuten während des Gesprächs, das nach uns im Programm dran sei, bei einem Gast auf dem Schoß sitzen. Nach diesem Gespräch würde die Kamera eine andere Position einnehmen, so dass ein Sitzplatzwechsel dann wieder möglich sei. Alles war also geregelt, so wie wir es wollten.

Das Gespräch mit der Moderatorin brachte mich dazu, mein geplantes Konzept komplett zu verwerfen und ein neues zu entwickeln. Schließlich wollte ich ja den Zuschauern mitteilen, was beide Täter mit mir gemacht haben. Ich steckte mir meine Stöpsel ins Ohr und hörte Musik. So konnte ich mich bei dem Lärm in der Gaststätte, in der wir vor unserem Auftritt warteten, besser konzentrieren. Es war nicht irgendwelche Musik, sondern das Requiem von Mozart. In meinem Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“ im Kapitel „Tag des Zornes, Tag der Klage“ habe ich darüber ausführlich geschrieben. Diese Musik hat mir vor den Sendungen geholfen, mich zu konzentrieren. Zusätzlich machte ich noch Yoga-Entspannungsübungen, wodurch ich mich zehn bis fünfzehn Minuten in einen Tiefschlaf versetzen konnte, wodurch ich frisch und total entspannt ins ‘Rampenlicht‘ gehen konnte.

Ich wollte gleich am Anfang in einem Satz sagen, was beide Täter mit mir gemacht haben, egal welche Frage die Moderatorin mir stellen würde. Dann ist es raus, dachte ich, und ich kann sehen wie sie darauf reagiert, um den weiteren Verlauf des Gespräches dadurch vielleicht besser beeinflussen zu können. Mein Konzept war klar, ich nahm meine Stöpsel aus dem Ohr und los ging die Sendung.

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Die Moderatorin stellte mir folgende Frage: „Die Narben an der Seele bleiben Herr Denef, wie können wir uns das vorstellen, welche konkreten Folgen hatte das für Ihre Gesundheit?“

Meine Antwort war wie geplant: „Ich habe 35 Jahre lang geschwiegen. Ich habe Tag und Nacht daran gedacht. Es war ständig präsent, das, was mit mir passiert ist. Präsent war in erste Linie, dass der erste Täter, sowohl auch der zweite Täter meinen Schwanz im Mund gehabt haben und das ist so präsent für mich, dass ich Tag und Nacht das immer in meinen Gedanken habe.“

Das Wort „Schwanz“ hatte ich bewusst gewählt, um mit dieser vulgären Sprache zu verdeutlichen, dass es sich hier um das schlimmste Verbrechen handelt was man einem Kind antun kann. Die Moderatorin hatte ich damit aus ihrem Konzept gebracht und es hatte den Anschein, dass sie auf Grund dessen nur noch sehr schlecht Luft bekam. Als Profi muss sie damit fertig werden, dachte ich und lehnte mich zurück, denn das wichtigste was ich sagen wollte, hatte ich ja geschafft. Alles was danach kam war für mich nicht mehr so schwer zu sagen. Dass ich diesen Satz jemals öffentlich sagen kann, war für mich jahrzehntelang vorher unvorstellbar.

Wegen des Wortes „Schwanz“, wurde meine Frau wenige Tage nach der Sendung zu ihrer Chefin zu einem Gespräch geladen und man fragte sie, ob „Schwanz“ unsere Umgangssprache zu Hause sei. Aber das war nicht das erste Gespräch in dieser Sache, denn seitdem ich im SPIEGEL meine Geschichte veröffentlich hatte wurde meine Frau in dem Kindergarten, in dem sie für viele Jahre gearbeitet hatte, gemobbt. Am 5. Dezember 2005 erschien der Artikel und zwei Tage später ging es los, dass man ihr ihren Arbeitsalltag schwierig machte. Sie musste dort unendlich viel Leid erfahren. Ein Jahr lang. Danach war sie arbeitsunfähig. Sie liebte ihre Arbeit mit den Kindern in der Krabbelstube und die Kinder liebten sie. Ihr Arbeitgeber war die katholische Kirche.

Alle Mitwirkenden der Sendung bekamen Essen- und Getränkegutscheine vom MDR. Da der Sendebeginn erst um 22:00 Uhr war wurde uns gesagt, dass es danach nicht mehr möglich sei diese einzulösen, da die Küche dann geschlossen sei. Damit hatte ich ein Problem, denn ich esse und trinke nichts vor wichtigen Ereignissen, beziehungsweise wenn es darum geht, mich ganz besonders zu konzentrieren. Der Bauch muss bei mir leer sein wenn mein Kopf arbeiten muss.

Dem verantwortlichen Redakteur für meinen Beitrag, der gleichfalls auch zuständig war im Publikum zu sitzen, um es zu animieren an bestimmten Stellen zu klatschen, teilte ich meine Probleme mit, vor der Sendung nichts essen zu können und er möge doch mit der Küche absprechen, dass man mir einen Teller Salat nach der Sendung servieren solle. Das sei unmöglich, sagte er, das würde die Küche nicht machen, so etwas gab es bisher noch nicht. So schwer könne das doch nicht sein, mir einen Teller Salat vor der Sendung vorzubereiten, damit ich ihn danach essen kann, dachte ich und sprach selbst mit dem Küchenchef. „Eigentlich machen wir so etwas nicht“, sagte er, „aber für Sie machen wir mal eine Ausnahme.“ Nach der Sendung verließen die Zuschauer und das Fernsehteam relativ schnell den Raum, so dass ich in aller Ruhe meinen Salat genießen konnte. Der Redaktionsleiter kam kurz am Tisch vorbei und sagte: „Sogar bei dem Salat haben Sie sich noch durchgesetzt.“ Er lächelte dabei.

Beide Bücher, „Alles muss raus“ und „Ich wurde sexuell missbraucht“, können in einer Geschenkaktion als PDF bei Norbert Denef bestellt werden. Bei Interesse senden Sie bitte eine e-Mail an:
norbert.denef@netzwerkb.org