Der gebürtige Delitzscher Norbert Denef wurde in seiner Kindheit von einem Vikar sexuell missbraucht. Von der katholischen Kirche erhielt er eine Entschädigung, doch die Vergangenheit lässt ihn nicht ruhen. Jetzt nannte er einen zweiten Täter. Und er fordert Landrat Czupalla auf, ihm bei der Aufarbeitung zu helfen.

Rund 20 Jahre ist es her, dass sich der Ex-Delitzscher Norbert Denef erstmals offenbarte, über den erlittenen Missbrauch in der katholischen Gemeinde berichtete. 20 Jahre, in denen er erst vorsichtig, dann immer offensiver die Öffentichkeit suchte. Zwei Bücher hat er geschrieben – über die Erlebnisse in Delitzsch und über seine Erfahrungen mit Politik und Medien. Denef gründete netzwerkB, einen Verein von Betroffenen sexualisierter Gewalt, und kämpft für die Aufhebung der Straftat-Verjährung bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung. Aus eigener Betroffenheit: Erst in diesem Monat brachte er die Kraft auf, öffentlich den Namen eines zweiten Mannes zu nennen, von dem er missbraucht worden sei. Ein Fernsehauftritt im MDR, der erste zusammen mit seiner Tochter Kristin, war für ihn die Gelegenheit. Im LVZ-Interview spricht der 65-Jährige über Beweggründe, Familie und die Resonanz aus der Gesellschaft.

Sie waren in diesem Monat zu Gast in der MDR-Fernsehsendung „Unter uns“. Welche Resonanz haben Sie auf diesen Auftritt bekommen?

Unmittelbar nach der Sendung kam eine jüngere Frau aus dem Publikum zu mir und bat um ein Gespräch. Ihre Mutter sei auch missbraucht worden, sagte sie, und es falle ihr noch sehr schwer, darüber zu sprechen. Während die Tochter das zu mir sagte, stand die Mutter mir gegenüber. Das könne ich sehr gut verstehen, sagte ich, denn ich habe auch 35 Jahre lang nicht darüber reden können. Danach sprach ich mit der Mutter und sie erzählte mir ihr Schicksal. Es ist wunderbar mitzuerleben, wenn Kinder ihre Eltern dazu ermutigen, über ihre schrecklichen Erlebnisse in der Kindheit zu sprechen. Nach so einer Sendung erhalte ich sehr viele E-Mails – mehr als 20 000 Leserbriefe habe ich in den vergangenen Jahren bekommen. Und hinter jeder E-Mail steckt unglaublich viel Leid.

Warum war Ihnen dieser Auftritt wichtig?

Wir von netzwerkB haben uns dazu entschlossen, anhand meines persönlichen Falles der Politik den Nachweis zu erbringen, dass der neue Gesetzentwurf eine Farce ist. Denn bei der angeblichen Anhebung der Verjäh- rungsfristen handelt es sich lediglich um eine Verlängerung der Hemmungsregelung vom 21. auf das 30. Lebensjahr des Opfers, die Frist beginnt später zu laufen. Diese Regelung gilt nicht rückwirkend. Aber auch für zukünftige Fälle hätte das Opfer keine Möglichkeit seinen Täter anzuzeigen. Mein Fall zeigt, wie der Gesetzgeber in Deutschland die Täter schützt und die Opfer zum Schweigen zwingt. Deshalb habe ich den Namen meines zweiten Täters öffentlich in der Sendung ge- nannt.

Seit Sie erstmals über Ihre Missbrauchs- Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter sprachen, wurde als Täter immer wieder der inzwischen verstorbene Delitzscher Vikar Alfons Kamphusmann genannt. Für dessen Vergehen erhielten Sie vom Bistum Magdeburg eine Entschädigung. Nun beschreiben Sie einen weiteren Mann als Täter: Rolf Henry K. Wer ist das?

Ein früherer Chorleiter der Mariengemeinde in Delitzsch. Damals mein einziger Freund und Vertrauter, später mein Schwager. Meine Familie habe ich bereits 1993 mit dieser Tatsache konfrontiert. Später ist der Mann vom bischöflichen Ordinariat Limburg, wo er dann in Diensten war, abgemahnt worden. Er hat den Missbrauch im Beisein einer Justiziarin eingestanden. Das habe ich schriftlich. (das Schreiben liegt der LVZ vor – Anmerk. d. Red.)

Warum benennen Sie ihn dann erst jetzt öffentlich?

Es ist ein sehr langer Prozess, bis ein Opfer über die schrecklichen Verbrechen, die ihm angetan wurden, sprechen kann – wenn überhaupt, dann oft erst nach vielen Jahrzehnten. Ich habe lange geschwiegen. Und selbst wenn es einem gelingt, nach der Schweigephase öffentlich zu sagen: „Ich wurde sexuell missbraucht“, vergehen weitere Jahre, bis man den Täter anzeigen kann. Wegen der Idealisierung des Täters, die notwendig ist, um zu überleben, ist man erst viele Jahre später dazu in der Lage. Die Idealisierung zu meinem Schwager hat 56 Jahre lang gedauert, weil er der Mann meiner Schwester ist und ich viel zu lange glaubte, er sei mein Freund.

In welcher Phase Ihres Lebens haben Sie den Missbrauch erlebt?

Vom 10. bis zum 16. Lebensjahr musste ich sexualisierte Gewalt durch Vikar Alfons Kamphusmann ertragen – danach bis zu meinem 18. Lebensjahr durch meinen späteren Schwager.

Sie sind jetzt 65, der Missbrauch in Ihrer Kindheit und Jugend gilt nach derzeitigem Recht als verjährt. Wie geht es Ihnen mit dieser Erkenntnis?

Es ist ungerecht und unmenschlich, wie der Gesetzgeber in Deutschland mit Opfern sexualisierter Gewalt umgeht. In einer Wahrheitskommission könnten Opfer und Täter sich gemeinsam auf den Weg machen, die alten Verbrechen aufzuarbeiten. Dafür macht sich netzwerkB stark. Für die Betroffenen würde eine Anerkennung der Schuld durch den Täter eine ge- wisse Befreiung bedeuten. Es geht hier nicht um Strafe, es geht darum, den Opfer-Täter-Opfer-Kreislauf zu entlarven und – hoffentlich – für die kommenden Generationen zu brechen. Ich habe bereits im Mai 2013 Papst Franziskus einen ‚Akt der Versöhnung’ vorgeschlagen und das Schreiben am 6. November 2013 nochmals im Vatikan persönlich übergeben. Noch schweigt Franziskus.

Sie setzen sich seit Jahren für die Aufhebung der Verjährungsfristen ein, doch selbst starke Vorstöße, wie eine Petition an den Europäischen Gerichtshof oder eine Rede vor dem SPD-Bundesparteitag, brachten Sie nicht zum Ziel. Was gibt Ihnen Hoffnung?

Aus der Geschichte wissen wir, dass Ungerechtigkeiten und Lügen nicht ewig Bestand haben. Jede Mauer bekommt irgendwann Risse und fällt in sich zusammen.

In der Fernsehsendung äußerte sich erstmals auch Ihre Tochter Kristin öffentlich über die Gespräche mit ihrem Vater, Ihre Frau saß im Publikum. Wie viel Kraft kann Ihnen Ihre Familie geben?

Ohne meine Frau und meine beiden Kinder hätte ich die Ausgrenzung meiner Herkunftsfamilie und die Lügen der Politiker der letzten 20 Jahre nicht überlebt.

Sie haben die gut 20 Jahre Ihrer Öffentlichkeitsarbeit soeben in dem Buch „Alles muss raus“ dokumentarisch aufgearbeitet und zu Jahresbeginn eine Buch-Geschenkaktion gestartet. Was treibt Sie an?

Es war mein Ziel, in „Alles muss raus“ die vielen Pressemeldungen, Radio- und Fernsehsendungen und die Geschichten, welche sich hinter den Kulissen abspielten, für die Nachwelt zu erhalten. Ich verschenke dieses als eBook, ebenso mein Buch „Ich wurde sexuell missbraucht“, das 2007 erschien. Ich tue das, weil ich mir den Stress mit Verlagen ersparen will. Wer dennoch gern einen Beitrag dafür geben möchte, kann das mit einer Spende für netzwerkB tun. Das Buch von 2007 habe ich überarbeitet und zwei Kapitel hinzugefügt.

Wie ist denn die Geschenkaktion angelaufen?

Ich muss jetzt nicht mehr so viel erklären, wenn mich Betroffene anrufen und mich um Rat fragen. Denn nun kann ich auf bestimmte Kapitel verweisen und gegebenenfalls auf Rückfragen antworten. Das gilt auch, wenn mich Journalisten um ein Interview bitten – ich habe im Buch zu den meisten Themen bereits Stellung bezogen. Für „Alles muss raus“ interessieren sich mittlerweile sogar Filmemacher, um dazu einen Dokumentarfilm zu drehen.

Wie viele Mitglieder hat netzwerkB?

Der Verein, eine bundesweite Opferinteressenvertretung, zählt etwa 25 000 Unterstützer.

Seit sechs Jahren wohnen Sie an der Ostsee?

Oh ja. „Die Ostsee ist meine Therapeutin“ – so heißt ein Kapitel in meinem Buch „Alles muss raus“. Es beschreibt, wie sehr mir die Ostsee bei meiner Arbeit hilft.

Wie oft kommen Sie noch nach Leipzig oder Delitzsch?

Nur in Verbindung mit Fernsehsendungen. Auch in meinem Fall könnte eine Wahrheitskommission viel leisten – gemeinsam aufarbeiten, um endlich dem Schweigen ein Ende zu setzen. Landrat Michael Czupalla könnte einiges zur Wahrheitsfindung beitragen, wenn er will. Wir sind gemeinsam mit Vikar Alfons Kamphusmann in der katholischen Kirche aufgewachsen.

Interview: Kay Würker

ZUR PERSON

Norbert Denef wurde am 5. Mai 1949 in Delitzsch geboren. Er arbeitete unter anderem als Techniker in der Oper Leipzig. 1981 reiste er in die Bundesrepublik aus, nachdem er fünfeinhalb Jahre auf die Genehmigung gewartet hatte. Er fand Anstellung an der Alten Oper in Frankfurt am Main, später als Technischer Leiter am Bürgerhaus Dietzenbach bei Frankfurt und am Stadttheater Rüsselsheim. Bis 2012 war Denef im Objekt-Management der Stadt Rüsselsheim tätig. Denef ist verheiratet, Vater von Kristin und Sebastian Denef. Er lebt in Scharbeutz, einem Ostsee-Küstenort in Schleswig-Holstein. Dort engagiert er sich als Vorsitzender von netzwerkB, einer Interessenvertretung von Betroffenen sexualisierter Gewalt. K.W.

LITERATUR

Wer wissen will, was Norbert Denef bewegt, was er erlebt hat, wofür er kämpft, der wird fündig in zwei Büchern. 2007 erschien „Ich wurde sexuell missbraucht“, in dem Denef auf 160 Seiten sein Delitzscher Kindheits- und Jugendschicksal schildert. Nun folgte „Alles muss raus“, ein Resümee über rund 20 Jahre Öffentlichkeitsarbeit im Ringen um stärkere Opfer-Rechte in Deutschland.

Norbert Denefs Bücher können im PDF-Format bestellt werden:
per E-Mail an norbert.denef@netzwerkb.org

Quelle: Leipziger Volkszeitung 24.01.2015