Der Film „Tod in Venedig“ hat mich in tiefste Schuldgefühle getrieben

von Norbert Denef

Mit „Tonio Kröger“, eine Art Selbstporträt von Thomas Mann, begann meine Leselaufbahn. Da war ich 16 Jahre alt und hatte bis dahin noch kein Buch gelesen. Hinter mir lagen sechs Jahre Missbrauchserfahrung mit einem katholischen Priester. Danach holte mich der Organist in sein Bett, mein späterer Schwager. Durch ihn öffneten sich für mich nicht nur die Türen der klassischen Musik, sondern auch der Literatur. Die nächtlichen Sauereien in seinem Bett konnte ich sehr gut ausblenden, denn durch die vergangenen sechs Jahre war ich Meister im Verdrängen geworden.

Nach dem ich „Tonio Kröger“gelesen hatte fühlte ich mich in eine andere Welt versetzt – ich empfand tiefes Mitgefühl mit dieser Geschichte und zugleich kam in mir der Drang auf, mehr über Thomas Mann zu erfahren. Später habe ich dann das gesamte Werk von ihm gelesen. Fasziniert war ich ganz besonders von der Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“. Dadurch konnte ich dann viel besser die Bibel begreifen. „Doktor Faustus“ habe ich mehrmals gelesen, um dieses Werk nur annähernd zu verstehen. Wenn ich längere Zeit keinen Thomas Mann gelesen hatte, brauchte ich immer 50 Seiten, um mit seinen langen, nicht enden wollenden Sätzen klar zu kommen. Ich liebte Thomas Mann und wäre niemals auf die Idee gekommen etwas von ihm und an seiner Lebensweise anzuzweifeln.

Als die Novelle „Der Tod in Venedig“ von Luchino Visconti 1971 verfilmt wurde war ich 22 Jahre alt. Acht Jahre sexuelle Gewalt und vier Jahre des Schweigens lagen hinter mir.

Der Film zählt zu den bekanntesten Thomas-Mann-Adaptionen. Mit der Musik von Gustav Mahler fand dieses Werk überall große Anerkennung. Golo Mann, der Sohn Thomas Manns bezeichnete diesen Film als gelungenste filmische Umsetzung, der „sehr wichtige Aspekte der Novelle vollkommen wiedergibt“. Thomas Mann „wäre begeistert gewesen“ wenn er den Film erlebt hätte, sagte er.

Als ich 44 Jahre alt war brach ich mein Schweigen und sagte öffentlich: „Ich wurde sexuell missbraucht“. Thomas Mann ruhte in mir und den Film „Tod in Venedig“ hatte ich verdrängt. Es vergingen weitere Jahre und erst mit 57 Jahren, als ich von dem Projekt der Berliner Charité hörte, die angeblich „Pädophilen“ helfen könnten keine Straftaten zu begehen und dafür mit dem Spruch „Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?“ warben, dachte ich über die „Knabenliebe“ in dem Film „Tod in Venedig“ nach. Ich begann mich mit Thomas Mann kritischer auseinanderzusetzen und musste erkennen, dass mein bisheriges Bild von ihm nicht der Realität entsprach: „Dass Thomas Mann sich gelegentlich in Knaben verschaute, blieb Katia Mann nicht verborgen, sie sah über derlei Verliebtheiten hinweg, zumal er seinen ehelichen Pflichten nachkam, wie sein Tagebuch verrät.“ (http://www.thomasmann.de/thomasmann/leben/katia/231190)

Als ich den Film „Tod in Venedig“ gesehen hatte, war es für mich noch unvorstellbar, jemals mein Schweigen zu brechen. Der Film hat mich in tiefste Schuldgefühle getrieben und wahrscheinlich wurde mein Schweigen dadurch noch mehr verlängert.

„Warum hat Sie der Film ‚Tod in Venedig‘ in tiefste Schuldgefühle getrieben und womöglich Ihr Schweigen noch verlängert? Ich versuche, mich einzufühlen, aber ich verstehe es nicht. Hat das etwas mit Tadzio zu tun und wenn ja, was? Oder mit Aschenbach?“ Diese Fragen stellte mir 2009 eine Person, die mit der Familie Mann sehr vertraut war und Katia Mann noch persönlich kannte.

Die Gesellschaft verherrlichte diesen Film und niemand wagte, die Abartigkeiten beim Namen zu nennen. Ich schraubte 1971 den Deckel fester zu und schwieg, 35 Jahre lang.

Ich wollte wissen wie ich heute auf diesen Film reagieren würde und schaute mir ihn nach 38 Jahren erneut an. Jetzt mit einer anderen Sicht als damals – in Tadzio sah ich mein Spiegelbild.

Perversionen wurden mit dem Deckmantel der Kunst zugedeckt und mit „Liebe“ und „Zuneigung“ verglichen. Da fiel mir der Spruch der Berliner Charité wieder ein: „Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?“.

„Es müsste ein Verbot geben, Kinder zu lieben, damit nicht auf etwas Ungewisses hin soviel Eifer verschwendet würde. Denn bei Kindern ist es noch ungewiss, wie sie am Ende sich entwickeln, ob zum Schlechten oder zum Guten der Seele und des Leibes. Die Guten nun geben sich selbst freiwillig dieses Gesetz; man sollte aber auch die Liebenden der gemeinen Art dazu zwingen …“ (Platon: „Das Gastmahl oder von der Liebe“)

Platon war es, der seiner Zeit voraus war. Thomas Mann war es nicht, er hat durch seine Novelle „Der Tod in Venedig“ die alte griechische „Knabenliebe“ verherrlicht.

Tadzios Gefühle wurden von Thomas Mann ausgeblendet, noch nicht einmal angedeutet.

Die Abartigkeiten Aschenbachs mit dem Mantel der Kunst zuzudecken, war und ist leider immer noch in unserer Gesellschaft üblich. Das erklärt auch das lange Schweigen der Opfer.

„Auch richtig“, schrieb mir die Person, die Katia Mann persönlich kannte, „‚Tod in Venedig‘ stellt sehr wohl eine Verherrlichung der griechischen ‚Knabenliebe‘ dar. Von Tadzio erfährt man ja wirklich nichts. So hab ich das bisher noch nicht gesehen. Tadzio war eine Projektionsfläche für die Wünsche Aschenbachs. Ja. Aber wäre Aschenbach zu gewaltsamer Durchsetzung seiner Phantasien fähig gewesen? Erfährt man auch nicht. Ist ’nur‘ die Seuche dazwischengekommen? Sozusagen? Von Thomas Mann selber weiss man ja auch aus seinen Tagebüchern nicht, ob er ’nur‘ geschwärmt oder aber sich gewaltsam etwa geholt hat, was er wünschte? Man darf ja wohl annehmen, dass er nicht  gewalttätig wurde, weil er sonst ja auch alles Peinliche genau und total offen notiert hat. Ich denke, er hat sublimiert, indem er schrieb. Thomas Mann war sehr schwul, seine Sehnsüchte waren es. Trotzdem hat er natürlich Kinder gezeugt, aber alle hatten tragische Schicksale. Katia war mit einem Genie verheiratet und ich glaube, deshalb hat sie alles ertragen. Zu diesen Zeiten hat eine Frau sowieso alles ertragen.“