Wenn Psychotherapie das Leid verschlimmert

Millionen Menschen sind auf Psychotherapie angewiesen. Meistens hilft sie. Doch manchmal stürzen die Hilfesuchenden noch tiefer in die Krise, weil der Therapeut seine Kunst nicht beherrscht.  Von Nina Poelchau

Als sich Katharina Wolf (Name geändert, Anm. der Red.) entschließt, ihre Vergangenheit zu erforschen, kommt sie mit ihrem Leben noch ziemlich gut klar. Ihr Sohn, damals sieben, leidet an unerklärlichen Ängsten. Seine Verhaltenstherapeutin mutmaßt, dass Frau Wolfs schwierige Kindheit damit zu tun haben könnte. Unbewusst könne der Sohn die Last der Mutter auf seinen Schultern tragen. Sie empfiehlt auch ihr eine Therapie. Wolf, damals 39 Jahre alt, eine attraktive Frau, Empfangssekretärin in einem Krankenhaus, ist zu allem bereit. Sie will ihrem Kind helfen. Das Kultbuch der 80er Jahre, „Das Drama des begabten Kindes“ der Psychologin Alice Miller, lässt sie glauben, ihr eigenes Drama wiederzuerkennen. Daraufhin sucht und findet sie einen Psychotherapeuten. Ende 40 ist er, ausgebildet in tiefenpsychologischen Verfahren, die im unbewussten Untergrund der Seele nach Erklärungen für Leid und Konflikte graben. Der Mann macht einen väterlichen Eindruck und praktiziert gleich im Nachbarort.

So beginnt eine unheilvolle Reise. Sie dauert, mit Unterbrechungen, elf Jahre, sie umfasst 580 Termine, die meisten davon verbringt Katharina Wolf im Liegen. Sie verliert in dieser Zeit den Boden unter den Füßen, entwickelt Schlafstörungen und Depressionen, ihre Ehe ist fast am Ende, oft möchte sie sterben. Sie hängt an ihrem Therapeuten wie an der Nadel. „Ich führe Sie da hinein, und ich hole Sie da wieder heraus“, hat er versprochen. Aber von wegen: Dem Mann entgleitet die Situation völlig.

Katharina Wolf ist vielleicht ein extremer, aber kein Einzelfall. Die Zahl derer, die psychotherapeutische Hilfe suchen, steigt und steigt. Fast vier Millionen Menschen sind jedes Jahr in Behandlung. Allein zwischen 2000 und 2006, so hat das Robert Koch Institut ermittelt, wuchs die Zahl der Psychotherapien in Deutschland um rund 60 Prozent. Das ist zunächst weder gut noch schlecht. Man muss sich heute nicht mehr, wie es früher oft geschah, mit Depressionen, Selbstzweifeln und Lebensangst abfinden. Psychotherapie, richtig angewandt und qualitätsgesichert, wirkt: Zahlreiche Studien und Überblicksarbeiten belegen es.

Drei Monate Wartezeit sind üblich

Eine immer größere Rolle spielt heute die ambulante Behandlung. Dadurch wird die Hemmschwelle, Hilfe in Anspruch zu nehmen, deutlich niedriger. Sobald ein Therapeut mit Kassenzulassung seine Praxis eröffnet hat, kann er sich darauf verlassen: Es dauert ein paar Wochen, dann ist die Bude voll. Wartezeiten von drei Monaten auf einen Therapieplatz sind normal. Etwa 22 000 Psychotherapeuten haben heute in Deutschland einen Kassensitz. Schon lange moniert deren Interessenvertretung, die Bundespsychotherapeutenkammer, das seien viel zu wenige, der Bedarf sei wesentlich größer, die Verteilung außerdem ungerecht und unsinnig: Die Versorgung in den Städten ist wesentlich besser als auf dem flachen Land, im deutschen Osten schlechter als im deutschen Westen. Praktisch flächendeckend aber gilt, dass der Bedarf das Angebot übersteigt.

Psychotherapeutische Hilfe ist ein knappes Gut in einem reichen Land, in dem offensichtlich viele angeschlagene Menschen leben: Rund 30 Prozent der Bevölkerung haben mit seelischen Problemen zu kämpfen. Ökonomen wissen, dass Knappheit den Wettbewerb um beste Qualität hemmt. Wer einmal einen der raren Plätze ergattert hat, der wird ihn so schnell nicht wieder hergeben – sofern er überhaupt bemerkt, dass etwas nicht stimmt: „Ein weniger guter oder gar schlechter Therapeut hat potenziell eine genauso lange Warteliste wie ein wirklich guter – zumindest solange er nicht ausgesprochen unsympathisch wirkt“, diagnostizierten die Dresdner Psychotherapie-Forscher Frank Jacobi, Andreas Poldrack und Jürgen Hoyer bereits zu Anfang des neuen Jahrtausends. Seit damals hat der Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung massiv zugenommen. Allein das Beispiel der Depression zeigt, in welch hohem Maße die psychische Gesundheit der Deutschen nach Hilfe verlangt.

Psychotherapie wirkt

Als die Techniker Krankenkasse Ende Januar ihren neuen Depressionsatlas vorstellte, ein umfassendes Datenwerk zur Schwermut in zeitlichen und geografischen Detaildarstellungen, kam an den Tag: Um 69 Prozent haben sich die Fehlzeiten der Arbeitnehmer durch Depression zwischen 2000 und 2013 erhöht. War zunächst ein gewisser Rückgang spürbar, stiegen sie zwischen 2006 und 2012 um 75 Prozent an; da zeigt sich das Gesicht einer Zeit von Burnout, Stress und Erschöpfung.

Gerade bei mittelschweren Fällen – den häufigsten, die professioneller Hilfe bedürfen – können mit den anerkannten Formen der Psychotherapie vergleichbare Erfolge wie mit einer Antidepressiva-Therapie erzielt werden. Nur ist deren Effekt deutlich leichter zu messen. Hier liegt das Problem der eigentlich positiven, enorm wichtigen psychotherapeutischen Seelsorge. Was zwischen vier Wänden passiert, in denen zwei Menschen vor allem miteinander sprechen, also keine handfesten Spuren hinterlassen, hat sehr viel mit der Erfahrung und Integrität des Therapeuten zu tun. Voraussetzung für eine glückende Therapie ist, dass der Klient sich vollkommen öffnet, seelisch nackt auszieht vor einem Fremden, von dem er eigentlich nicht viel mehr weiß als das, was auf dem Türschild steht. Ein Risiko ist das aber auch.

In den meisten Fällen läuft alles gut. Sehr gut sogar. 65 Prozent der Behandelten geht es nach ihrer Therapie besser, hat die Techniker Krankenkasse in einem Qualitätsmonitoring festgestellt. Ein statistischer Traumwert eigentlich. Nur wenige Heilverfahren können mit einer solchen Erfolgsquote aufwarten – ob Operationen, Arznei- oder Physiotherapien. Zwischen 5 und 20 Prozent der Psychotherapie- Klienten, je nach Untersuchung, geht es allerdings schlechter. Auch dann noch, wenn die Psychotherapie beendet ist.

Desinteresse, Inkompetenz, Machtmissbrauch.

Bei kaum einer medizinischen Prozedur ist es so anspruchsvoll wie bei der Psychotherapie, herauszufiltern, wann es sich dabei um einen Behandlungsfehler handelt. Besonders schwer ist es für die Patienten selbst. Die sollen in fünf Probesitzungen, die die Krankenkassen gewähren, ein Gefühl für die Qualität des Angebots bekommen. Später, während der Psychostunden, sollten sie dann jederzeit mit dem Therapeuten besprechen, wenn ihnen etwas missfällt, sagt der Psychiater Michael Linden, der mit seinem Kollegen Bernhard Strauß ein Buch zum Thema „Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie“ geschrieben hat. Das sind ziemlich elegante Begriffe für das, was in Therapiesitzungen mitunter stattfindet: Desinteresse, Inkompetenz, Machtmissbrauch.

In der Heidelberger Uniklinik empfängt der Traumaexperte, Arzt und Analytiker Günther Seidler seine Patienten im Dachgeschoss, in den Regalen stehen dicht gedrängt Fachbücher, eines der dicksten hat er selbst geschrieben: „Psychotraumatologie. Das Lehrbuch“. Seidler behandelt Menschen, die im Rahmen einer Therapie traumatisiert wurden. Er legt sich gern mit seiner Zunft an, vor einigen Jahren ist er aus vier psychoanalytischen Institutionen und drei weiteren Fachgremien ausgetreten. Seidler störte die Überheblichkeit vieler Kollegen, deren Selbstherrlichkeit und ihr geradezu päpstlicher Unfehlbarkeitsanspruch. Er selbst sieht Therapeuten im Grunde auf einer Stufe mit ihren Patienten: „Wir sind nur die Bergführer, haben Kompass und Wetterkarte, aber den Weg auf den Berg machen wir gemeinsam.“ Seidler schreibt auch Gutachten für Gerichte. Und findet erschütternd, was ihm da manchmal auf den Tisch kommt. Sein jüngster Fall: Ben Steiner (Name geändert, Anm. der Red.) aus Frankfurt.

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