Offener Brief an den ‘Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs’, Johannes-Wilhelm Rörig (als PDF herunterladen)

Sehr geehrter Herr Rörig,

in Ihrer Pressemitteilung Nr. 12 vom 02.07.2015 geben Sie bekannt, dass ab 2016 eine ‘Unabhängige Aufarbeitungskommission’ Verbrechen von sexualisierter Gewalt an Kindern aufarbeiten soll. Deutschland setze damit international bei der Aufarbeitung neue Akzente.

Ziele der Aufarbeitungskommission seien: Anerkennung des Unrechts, besseres Verständnis des Themenkomplexes und der Folgen in der Gesellschaft und letztendlich bessere Prävention.

Der Begriff „Aufarbeitungskommission“ – wenn man historischen Beispielen, u.a. Südafrika folgen möchte- involviert unbedingt Täter und Opfer.

‚Aufarbeitung‘ weckt große Hoffnung bei Betroffenen, die tagtäglich unter der Last der erlebten Gewalt und deren Folgen (nicht zuletzt auch in Form von materieller Not für viele) zu leben versuchen.

‚Aufarbeitung‘ impliziert für Betroffene, dass

  • Täter/Täterinnen gestoppt werden und dass
  • Opfern endlich geholfen wird, das Trauma zu bewältigen, dass gutgemacht wird, was wieder gut zu machen ist und dass sie aufgefangen und unterstützt, und nicht wieder allein gelassen werden.

Die ‚Aufarbeitung‘ die in Deutschland nun geplant ist unterscheidet sich von den historischen Vorgängern darin, dass sie keine Täter involviert. Und zudem gibt „es keine gesetzliche Grundlage“ für die Arbeit der Kommission.

Das hier vorgestellte Vorhaben spricht nicht von Soforthilfe für die Opfer, spricht nicht vom Stoppen der Täter und Täterinnen, sondern es spricht von Forschung zu dem Zweck, irgendwann, vielleicht mal helfen zu können. Und das ist der staatliche Standpunkt und Beitrag.

Herr Rörig,

  • Wie wollen Sie die Verbrechen erfassen ohne rechtliche Grundlage, die Akteneinsicht und Vorladungsrechte gewähren würde, um so die Täterseite zu beleuchten?
  • Wie wollen Sie dann geeignete Strategien zur Prävention erarbeiten?
  • Haben wir es hier nur mit einer semantischen Ungenauigkeit zu tun? (Wie oben aufgeführt beinhaltet Aufarbeitung mehr als Ihrer Kommission möglich sein wird.) Wenn ja, müsste diese korrigiert werden, um keine falschen Hoffnungen bei Opfern zu erwecken.
  • Wenn aber diese Kommission wieder nur eine ‚Anhörung‘ von Opfern ist – wobei ‚Anhörung‘ ein Machtgefälle beinhaltet mit dem Anhörenden in der Position des gefälligen Machtinhabers – wie rechtfertigen Sie dann die geplante Ausgabe von 3 Millionen Euro im Jahr, während die wirtschaftliche Not unter Betroffenen sehr oft extrem hoch ist?
  • Wie antworten Sie auf den Vorwurf, dass eine weitere individuelle Anhörung bei bestehendem Täterschutz durch bestehen bleibende Verjährungsfristen nun wieder etwas Verhöhnendes hat?
  • In der Pressemitteilung sprechen Sie von dem Ziel ‚gesellschaftlicher Anerkennung des Leids der Opfer‘. Wenn diese ‚Anerkennung‘ aber keine Entschädigung mit sich bringt, bleiben viele Opfer weiterhin an der Teilhabe an eben dieser Gesellschaft ausgeschlossen. Wie rechtfertigen Sie das den Opfern gegenüber?
  • Mangelt es nach Ihrem Dafürhalten an politischem Willen, eine echte Aufarbeitung durchzuführen? Wenn ja, wie können Sie es rechtfertigen sich selbst und ihre Institution daran zu beteiligen?
  • Der Hilfsfond läuft eher schleppend und erniedrigend – mit Bearbeitungszeiten von einem Jahr, langen Befragungsbögen die von vielen als re-traumatisierend empfunden werden, und vielen Ablehnungen obwohl das Angefragte notwendig ist. Wie wollen Sie Opfern gegenüber die Ausgabe von Geldern rechtfertigen für eine Wahrheitskommission, die mit ihren strukturellen Schwächen nichts aufarbeiten kann?
  • Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, dass Opfer wieder einmal nur ‚Forschungsobjekt‘ sind, mit denen andere ihre Karrieren vorantreiben, bzw. Geld verdienen?
  • Wie antworten Sie den Opfern, die sich durch eine weitere individuelle Anhörung bei bestehendem Täterschutz und bestehen bleibenden Verjährungsfristen nur verhöhnt vorkommen?
  • Was sagen Sie zu dem netzwerkB Mitglied, das uns folgendes geschrieben hat (eine unter vielen derartigen Zuschriften):

„Die meisten Bauschmerzen haben mir beim Lesen des Artikels die sieben Kommissionsmitglieder verursacht, für die jährlich 3 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Wieder Menschen, die sich an unseren Schicksalen bereichern. Die Betroffenen dürfen als Gast dabei sein. Ein Gast bekommt keine finanzielle Entschädigung!
3 Millionen Euro Verschwendung für neue Papiere, die keinen interessieren. Und jeder Einzelne von uns quält sich weiterhin mit mehr oder weniger Erfolg durch das demütigende Opferentschädigungsgesetz mit seinen systematischen Abwehrmechanismen, um nach vielen Jahren Rechtsstreit und extrem belastenden Begutachtungen eine Almosenrente von unter 200 Euro zu bekommen. Soweit wir durchhalten und nicht aufgeben oder vorher sterben…. Das ist es was mich am allermeisten schmerzt: Die Menschen, die MIT und DURCH UNS Geld verdienen – Beamte, Gerichte, Gutachter, Wissenschaftler, Ärzte, Psychiater, Pharmakologen und jetzt noch eine sinnlose Kommission für drei Jahre im Gegenwert von 9 Millionen Euro!
Wieviel echtes, alltägliches Leid in unseren Reihen könnte man damit direkt und konkret mildern… Bitte an Herrn Röhrig weiterleiten. Danke!”

Sehr geehrter Herr Rörig, wir bitten Sie um eine öffentliche Stellungnahme.

Ihr netzwerkB Team

Für Rückfragen:
netzwerkB – Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt e.V.
Telefon: +49 (0)4503 892782 oder +49 (0)160 2131313