Liebe Mitglieder und Freunde von netzwerkB,

angesichts des Suizids des Terrorverdächtigen al-Bakrs in der JVA Leipzig erreichten uns in den letzten Tagen zahlreiche Anfragen und Kommentare, die sich zum Teil auf den konkreten Fall, und zum Teil ganz allgemein auf das Thema Suizid in Haft beziehen. Es ist nicht immer möglich, jede Anfrage zeitnah zu beantworten, so dass wir uns entschieden haben, zu dem Fall und den aufgeworfenen Fragen in diesem Rundschreiben kurz Stellung zu nehmen.

Grundsätzlich ist die Zahl von Suiziden in Haft im Verlaufe der letzten Jahrzehnte gesehen rückläufig. Immer noch bringen sich allerdings, mit jährlichen Schwankungen, um die 100 Menschen pro Jahr in Haft um. Gemessen an der Gesamtzahl der Inhaftierten ist die Suizidrate von Gefangenen damit signifikant höher als die von Menschen in Freiheit. Die Forschung geht davon aus, dass sich dies nicht gänzlich mit Persönlichkeitseigenschaften, Suchtproblemen usw. von Gefangenen erklären lässt, sondern dass dies mit der Tatsache der Inhaftierung an sich zusammenhängt. Mit anderen Worten: bei fast jedem von uns würde das Suizidrisiko mit einer Inhaftierung steigen. Besonders groß ist es bei Untersuchungsgefangenen (sie wissen nicht, wie es weiter geht, sind oft zum ersten Mal in Haft usw.) und am Anfang einer Inhaftierung (da ist der Haftschock besonders groß) von der Freiheit in einen steinernen, verschlossenen 9qm-Raum mit Gittern vor dem Fenster.

Die Haftanstalten nehmen das bei fast jedem Gefangenen erhöhte Suizidrisiko sehr ernst (so gut sie es bei mangelhafter Personalausstattung eben können). Jeder Gefangene wird beim Zugang in die Anstalt und ab dann regelmäßig auch im Hinblick auf ein mögliches Suizidrisiko „untersucht“. Beim geringsten Hinweis wird eine Psychologin oder ein Psychologe (soweit vorhanden auch ein Psychiater) hinzugezogen. Es gibt dann mehrere mögliche Maßnahmen, einem Suizidrisiko zu begegnen. Das geht von viertel- oder halbstündigen Kontrollen, über eine 24-Stunden Sitzwache bis hin zur Unterbringung in einer Art „Gummizelle“, in der sich nichts befindet, mit dem man sich suizidieren könnte, und in der der Gefangene nur eine Papierunterhose tragen darf (in den meisten Bundesländern auch mit Kameraüberwachung). Letztlich muss man aber sagen: auch nur annähernd genau einschätzen zu können, ob sich jemand umbringen will oder wird, ist nicht möglich. Die beste Suizidprävention wäre es, weniger Menschen einzusperren.

Hätte der Suizid in Leipzig verhindert werden können? Natürlich, etwa mit einer dauernden Sitzwache. Eine solche darf aber eben nicht, schon gar nicht über Wochen, angeordnet werden, ohne dass psychologischerseits tatsächlich eine entsprechend hohe Suizidgefahr gesehen wird. Jeder kann sich vorstellen, was es für ein Psychoterror wäre, 24 Stunden am Tag angeschaut zu werden.

Nicht bei netzwerkB, aber im Internet sind auf den entsprechenden Seiten auch Kommentare nach dem Motto zu lesen „wen juckt das, wenn ein Gefangener sich umbringt, spart uns doch Steuergelder usw…“. Wer so „argumentiert“, befindet sich auf einer Ebene mit Befürwortern der Todesstrafe, und es kann nicht oft genug betont werden, dass die Erfahrungen etwa aus Amerika zeigen, dass die Todesstrafe nicht zu weniger, sondern zu mehr Gewalt unter den Bürgern und zu einer allgemeinen Verrohung führt. Es ist also zutiefst auch in unserem eigenen Interesse als nicht-inhaftierte Bürger, die Inhaftierten menschlich zu behandeln, wenn sich einzelne schon nicht aus Gründen der Humanität dazu entschließen wollen. Ich habe in meiner Gefängniszeit junge Männer in ihrem Blut liegen oder irgendwo hängen sehen, die wegen Drogendelikten und ähnlichem inhaftiert waren und den Schock der Haft nicht verkraftet haben. Wer das hinnimmt, ohne es zu hinterfragen, hat aus meiner Sicht weniger Empathie als viele der Straftäter, gegen die er so wettert.

Wir brauchen, das dürfte unstrittig sein, Möglichkeiten, mutmaßliche Terroristen festzunehmen und auch festzuhalten, und brauchen sicher noch mehr Fachwissen, um eine etwaige Suizidgefahr auch bei diesem Tätertyp („Selbstmordattentäter“) besser einschätzen zu können. Aber wir sollten uns doch Gedanken machen, ob gerade der Sinn der Untersuchungshaft, eine Flucht und eine Verdunklung zu vermeiden, nicht in vielen anderen Fällen mit humaneren Methoden als einem Einsperren erreicht werden könnte (z.B. elektronisch überwachter Hausarrest). Und im Umgang mit festgenommenen mutmaßlichen Terroristen sollten wir uns immer Guantanamo als warnendes Beispiel vor Augen halten. Etwas derartiges kann niemand ernsthaft bei uns wollen.

Festzuhalten bleibt aus meiner Sicht, dass, um einem der Leitgedanken von netzwerkB zu folgen, unnützes Leid vermieden werden muss. Der Selbstmord von Leipzig sollte daher Anlaß sein, das Thema Selbstmorde in Haft wieder grundsätzlich ins gesamtgesellschaftliche Bewusstsein zu bringen, und zu fragen: müssen wir wirklich so viele Menschen einsperren? Was richten wir damit an? Und ist das wirklich in allen Fällen, wie es oft vorgeschoben wird, im Sinne der Betroffenen von Gewalt? Wer kümmert sich eigentlich um deren Suizidrisiko?

Mit freundlichen Grüßen,

Ihr Thomas Galli