Ich möchte niemand sein, der für die Abschaffung der Gefängnisse plädiert, aber selbst ein Gefängnis leitet

Interview mit Ex-Anstaltsleiter und Buchautor Thomas Galli

TP: Herr Dr. Galli, Sie haben Ihren Dienst quittiert, Ihre sichere Arbeitsstelle als Anstaltsdirektor in der sächsischen Justizvollzugsanstalt Zeithain gekündigt. Warum denn nun dieser Schritt?

Galli: Es war keine leichte, auch keine eindeutige, sondern eine mit gewissen Konflikten verbundene Entscheidung. Letztlich habe ich aber im Verlauf der Diskussionen in den letzten Monaten gemerkt, dass sich meine Überzeugung, dass die Freiheitsstrafe – zumindest in den meisten Fällen – nicht sinnvoll, auch nicht menschlich ist, auf Dauer mit meiner Tätigkeit als Anstaltsleiter einfach nicht vereinbaren lässt.

TP: Der Justizminister in Brandenburg, Stefan Ludwig,  hat ja nun eindeutig gegenüber der TP Presseagentur zum Ausdruck gebracht, dass er sich freuen würde, wenn Sie Anstaltsleiter in Brandenburg wären. Hätten Sie sich nicht vorstellen können, dort eine Planstelle zu bekommen, bei der Sie einen großen Ermessensspielraum gehabt hätten, Ihre Vorstellungen zu verwirklichen?

Galli: Erst einmal freut und ehrt mich das sehr, dass Herr Ludwig an mich denkt. Aber letztlich ist es so, dass man als Anstaltsleiter auch mit dem größten Ermessensspielraum keinen Einfluss darauf hat, ob jemand eingesperrt wird und wie lange. Das sind ja eher die grundsätzlichen Fragen, die mich so rumtreiben und dass man das Strafrecht grundsätzlich reformiert. Daran kann ein Anstaltsleiter in der täglichen Praxis nichts ändern, ganz im Gegenteil, man kommt dann schnell an seine Grenzen. Es wird dann auch sehr schwierig eine Anstalt zu leiten, wenn jeder weiß, man ist der Meinung, die Leute sollten eigentlich freigelassen werden und man sollte andere Dinge mit ihnen machen als sie einzusperren. Das ist dann auch sehr schwierig im Mitarbeiter- und Kollegenkreis. Das passt dann einfach nicht zusammen.

TP: Sie wurden ja gerade wegen Ihrer abolitionistischen Auffassung zur Strafvollzugskonferenz in den brandenburgischen Landtag in Potsdam im Mai eingeladen. Auch wenn Herr Ludwig dann Ihre Auffassung eher als unrealistisch betrachtete, war diese Auffassung doch der Aufhänger Sie nach Potsdam einzuladen, zumindest um kontrovers darüber zu diskutieren. Mit vollem Erfolg. Wenn Sie nun Anstaltsleiter in Brandenburg wären bzw. eine ähnliche Funktion dort hätten, dann könnten Sie doch – nachdem die Strafvollzugsgesetze Ländersache geworden sind –  bestimmt einen gewissen Einfluss darauf nehmen?

Galli: Wenn sich da jetzt die Gelegenheit ergäbe, dass in Brandenburg jemand gebraucht würde, den Strafvollzug und die Freiheitsstrafe – zumindest soweit es realistisch ist – schrittweise abzubauen, dann wäre das nichts, was ich ausschlösse.

TP: Zumindest die unbestimmten Rechtsbegriffe in den Gesetzbüchern zu bestimmten Rechtsbegriffen  und so gerichtlich durchsetzungsfähiger zu machen?

Galli: Das wäre schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.

TP: Ihre Gedanken dazu würden in Brandenburg doch zumindest wohlwollend geprüft.

Galli: Von meiner Seite aus besteht immer das Interesse daran, mich da einzubringen. Zunächst möchte ich es jedoch als Anwalt probieren; aber wer weiß, was die Zukunft bringt. Aber wie gesagt, als Gefängnisdirektor – in welchem Bundesland auch immer : das passt nicht zu mir, das geht nicht.

TP: Wenn Sie demnächst als Anwalt agieren, haben Sie doch bestimmt massive finanzielle Einbußen gegenüber Ihrer bisherigen Tätigkeit als Anstaltsleiter. Haben Sie sich darüber schon Gedanken gemacht, zumal Sie ja auch eine Familie zu ernähren und zu unterstützen haben?

Galli: Darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht. Das war auch einer der Punkte, die zu den inneren Konflikten beigetragen haben, das gute und sehr sichere Beamtengehalt aufzugeben.

TP: Und die Pensionsansprüche.

Galli: Auch die Pension. Ich hoffe, dass ich in einem Jahr sagen kann, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, wenn es mir gelingt, irgendwo anders beruflich einigermaßen Fuß zu fassen und über die Runden zu kommen. Es kann natürlich auch sein, dass ich in einem Jahr sage, das war der größte Fehler, den ich je machen konnte. Das will ich auch nicht ausschließen. Die Intensität in den letzten Monaten war auch für mich eine völlig neue Situation, dass alle Welt jetzt mit mir über das Thema Strafvollzug reden will.

TP: Vor allem über die Abschaffung der Gefängnisse.

Galli: Ich habe meine Meinung da immer vertreten, ich stehe auch dazu. Da war es mir jetzt am Schluss wichtiger, zu meiner Überzeugung stehen zu können, um mich nicht nur gegenüber anderen unglaubwürdig zu machen, sondern mir auch selber gegenüber. Es gibt jetzt sehr viele, die auf Tagungen sehr progressive Ansätze vertreten, aber rein faktisch kriegen sie dann doch ihr Geld und dickes Gehalt vom Staat und machen so weiter. Ich möchte niemand sein, der in 20 Jahren auf Tagungen noch die Abschaffung der Gefängnisse fordert, aber selbst ein Gefängnis leitet. Das passt einfach nicht.

TP: Wäre es nicht besser, gleich Arbeitslosengeld zu beantragen denn als Anwalt zu arbeiten, der in erster Linie nur Strafrecht, Strafvollzugs- und vollstreckungsrecht machen möchte, zumal hier keine hohen Honorare zu erwarten sein dürften?

Galli: Vielleicht bin ich da ein bisschen zu optimistisch, weil ich zumindest die Hoffnung habe, dass ich davon leben kann. Aber natürlich sind das Bereiche, in denen erfahrene Leute sagen, da wird man alles andere als reich damit. Es ist schon meine Hoffnung, dass ich damit meinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Ich schreibe auch weiter; für Bücher kriegt man zwar letztlich noch weniger, aber ich versuche halt alles Mögliche zu machen.

TP: Im SWR – Südwestrundfunk – haben Sie in diesem Jahr gesagt, in Zeithain könnte man alle Gefangenen sofort entlassen. Dazu stehen Sie noch heute?

Galli: Ja, ja, das war auch so ein Punkt für mich, noch einmal mit einem Kamerateam vor der Anstalt vorzufahren und auf die Frage „Was würden Sie mit diesen Leuten machen?“, zu sagen: „Die würde ich alle entlassen, weil die alle im Durchschnitt 1 oder 2 Jahre Freiheitsstrafe haben, und da wird nichts besser in dieser Zeit.“ Aber man wird doch nicht mehr vor Ort eine Anstalt leiten können, wenn jeder weiß, wenn es nach ihm ginge, würde er alle freilassen. Das passt dann nicht mehr.

TP: Könnten Sie sich vorstellen, weiterhin auf Tagungen zu referieren und von den Honoraren, die es da gibt, zu leben?

Galli: Ich kann mir natürlich vorstellen weiter zu referieren, aber nicht mehr im bisherigen Umfang, das wäre ja Raubbau an meiner Gesundheit. Ich könnte höchstens noch 1 oder 2 Vorträge im Monat machen, aber davon kann man niemals leben. Wenn man Glück hat, kriegt man ein paar Hundert Euro, manchmal kriegt man auch gar nichts. Aber ich werde mich weiter zu dem Thema einbringen, das ist ja mein Thema.

TP: Könnten Sie sich nicht eine akademische Laufbahn vorstellen. Das wäre ja auch eine Möglichkeit, wieder in Pensionshoffnung zu kommen?

Galli: Ja, wenn sich dort eine Chance ergäbe, das würde mir auch liegen.

TP: Sie sind ja nun als Vorstandsmitglied in die Opferorganisation „netzwerkB“ gewählt worden. Diese Organisation zeichnet sich auch gerade dadurch aus, dass sie selbst für die Abschaffung der Gefängnisse plädiert. Also kein Zufall, dass Sie dort nun im Vorstand sitzen?

Galli: Die Betroffenen gerade von schweren Gewalt-und Sexualdelikten müssen nach meiner Überzeugung ganz wesentlich in eine Reform des Strafrechts einbezogen werden. Schließlich sollte das Strafrecht ja in erster Linie dazu dienen, solche schlimmen Taten möglichst zu verhindern, und wenn sie doch passieren, einen (oft nie ganz möglichen) gerechten Ausgleich herbeizuführen. Ich fürchte allerdings, dass die Betroffenen oft instrumentalisiert werden nach dem Motto „Die Opfer wollen lange Haftstrafen usw.“. Sieht man sich dann allerdings z.B. die Entschädigungen an, die Betroffene erhalten, und auch den mangelnden Aufklärungswillen etwa in Institutionen, in denen es oft seit Jahrzehnten zu sexuellem und anderem Missbrauch kommt, dann zeigt sich aus meiner Sicht eine andere fundamentale Schwäche und Ungerechtigkeit unseres Strafrechts: Die fast ausschließliche Zentrierung auf die Täter. Damit ist den Opfern nicht gedient, und niemandem ist gedient, wenn man die Interessen von Tätern und Opfern gegeneinander ausspielt. Es geht vielmehr darum, den Schaden, den Einzelne angerichtet haben, zumindest zu lindern, und manchmal auch zu heilen. Unser derzeitiges Strafrecht aber hat nicht diese lindernde, heilende Wirkung. Wenn man einen Vergleich mit der Medizin ziehen will, dann gleicht es eher der mittelalterlichen Methode des Aderlasses, bei der Kranken Blut abgenommen wurde im Glauben, sie dadurch zu heilen. Tatsächlich wurden sie dadurch noch kränker. Ich habe mich daher sehr gefreut, dass netzwerkB mich zur Mitwirkung eingeladen hat. Dort folgt man der Maxime, dass zumindest den meisten Betroffenen von Gewalt nicht damit gedient ist, wenn nun der Täter leidet. Es geht darum, Gewalt und ihre (auch institutionellen) Ursachen rückhaltlos aufzuklären, die Betroffenen tatsächlich zu unterstützen (und sie nicht oberflächlich abzufinden) und sie auch auf Augenhöhe in den Prozess der Aufklärung einzubinden. Außerdem müssen wirksame Maßnahmen ergriffen werden, die künftigen Missbrauch reduzieren. Wenn all das gegeben ist, ist ein Akt der Versöhnung möglich, der nicht alles heilen kann, aber deutlich mehr als es derzeit der Fall ist. Ich bin netzwerkB sehr dankbar, dass ich daran mitwirken darf.

Interview: Dietmar Jochum, TP Presseagentur

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