Offener Brief an meine Geschwister Barbara, Klaus und Hans-Gerd

In meinem Buch “Ich wurde sexuell missbraucht” schilderte ich ein Erlebnis, welches 48 Jahre zurückliegt – in meinem Leben aber immer präsent war.

Zitat:

Eine Hülle, die funktionierte

Sexuell ausgebeutet, die beiden Täter idealisierend, mit paradoxer Dankbarkeit ihnen gegenüber und dem Gefühl eine besondere oder übernatürliche Beziehung zu ihnen zu haben – so startete ich ins Leben. Ich war 20 Jahre alt.

Zum ersten Mal war ich verliebt, jedenfalls verspürte ich eine unglaubliche Zuneigung zu einem Mädchen, das ich im Urlaub an der Ostsee kennen lernte. Ich hatte zum ersten Mal sexuellen Kontakt mit einer Frau – meine bisherige Welt brach zusammen, ich war verwirrt. Sie studierte in Rostock und ich lebte in Delitzsch bei Leipzig. Auf Grund der Entfernung trafen wir uns nur höchstens einmal im Monat bei ihr im Studentenwohnheim. Nach einigen Monaten besuchte sie mich in Delitzsch. Der Kirchenchor der evangelischen und katholischen Kirchengemeinde probte zu dieser Zeit das Mozartrequiem – ich sang mit voller Begeisterung im Chor die Tenorstimme.

Ich holte meine Freundin vom Bahnhof ab und wir gingen zu mir nach Hause. Zu dieser Zeit wohnten nur noch meine Mutter, meine Schwester und ich in der Wohnung. Meine Mutter war an diesem Wochenende verreist. Am Abend fand eine Chorprobe in der Kirche statt – meine Schwester sang auch mit.

Kurz vor der Probe lernten der Kirchenangestellte und meine Schwester meine Freundin zum ersten Mal kennen, wir waren bei uns zu Hause im Wohnzimmer. Ich wollte den Abend mit ihr verbringen und nicht in die Chorprobe gehen, hatte aber nicht den Mut, das zu sagen. Stattdessen täuschte ich eine Erkältung vor, sagte, dass ich deshalb nicht singen könne. Der Kirchenangestellte und meine Schwester hatten kein Verständnis für meine Situation und versuchten, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, weil meine Tenorstimme doch unbedingt erforderlich sei.

Sie ließen mich aber dennoch mit meiner Freundin zurück – ich setzte mich durch. Wir waren allein und liebten uns auf unserem Sofa im Wohnzimmer, vergaßen Zeit und Raum. In dem Augenblick, als wir beide nichts mehr anhatten, ich auf ihr lag und wir versuchten eins zu werden, öffnete meine Schwester die Tür, rannte auf mich zu und schlug mit ihren Fäusten voller Kraft auf meinen Rücken ein, der Kirchenangestellte schaute zu. Sie schlug so lange, bis ich mich angezogen hatte. Dann warf sie meine Freundin aus unserer Wohnung. Ich folgte ihr. Ich konnte kein einziges Wort herausbringen. Beide standen wir sprachlos auf der Straße und nahmen das Angebot des Kirchenangestellten an, in seine Wohnung zu gehen. Dort schwiegen wir, konnten kein einziges Wort über das Erlebte sprechen. Sie fuhr wieder nach Rostock – ob noch in dieser Nacht oder erst am nächsten Tag, das weiß ich heute nicht mehr, da hat mein Gedächtnis eine Lücke.

Kurze Zeit später trafen wir uns noch einmal in Rostock – sie trennte sich von mir. Wir umarmten uns am Bahnsteig, ich stieg in den Zug, fühlte nichts, war eine Hülle, die funktionierte.

An den nächsten Chorproben für das Mozartrequiem nahm ich wieder mit voller Begeisterung teil, ich verspürte keinen Trennungsschmerz.

20 Jahre später nahm ich Kontakt zu ihr auf, wir trafen uns. Danach begann der Schmerz aufzubrechen – der Trennungsschmerz und wie ich mich dabei fühlte, als meine Schwester die Liebe in mir auf meinem Rücken zerschlug.

Zitatende

Meine damalige Freundin hieß Karin und ist am 27. April 2017 gestorben. Am 11. Mai habe ich an ihrer Beerdigung teilgenommen.

Meine Hülle, die 48 Jahre lang funktionierte, hat durch ihren Tod einen Riss bekommen.

Anstatt damals meinen Koffer zu packen und mich von meiner Herkunftsfamilie zu trennen (den Pfarrer, der mich vom 10. bis zum 16. und danach der Kirchenangestellte vom 16. bis zum 18. Lebensjahr vergewaltigt haben, der Staatsanwaltschaft zu überlassen) hat nur meine Hülle funktioniert:

Ich ließ meine Jugendliebe allein zurück nach Rostock fahren. Ich war immer der Ansicht, sie habe mich damals allein gelassen. Ich bemitleidete mich 48 Jahre lang selbst.

Ihr Tod hält mir nun den Spiegel vor. Heute würde ich meine Herkunftsfamilie verlassen und meiner Liebe folgen.

1993, als ich im Beisein der beiden Täter im Familienkreis das Schweigen über meine erlebte sexualisierte Gewalt brach, hat meine Wunschfamilie, meine Frau und meine beiden Kinder mich liebevoll aufgefangen und mir Halt gegeben – meine Herkunftsfamilie hat mich als Nestbeschmutzer ausgegrenzt bis zum heutigen Tag.

Meine Jugendliebe ist nun endgültig Geschichte – die Trennung mit meiner Herkunftsfamilie vollziehe ich mit diesem offenen Brief.

Möge es uns allen gelingen liebevoll damit umzugehen und nicht länger Hass- und Wutgedanken zu folgen.

Möge der Tod meiner Jugendliebe zum Überdenken unserer bisherigen Sichtweisen anregen.

Mit bewegten Grüßen von meiner geliebten Ostsee

Norbert