Die Wissenschaftlerin Franziska Dübgen spricht im Interview über vernachlässigte Resozialisierung in Deutschland, die Folgen des Neoliberalismus in der Strafjustiz – und Alternativen zum Wegsperren.

Frau Dübgen, wir hören oft nur Schlechtes über unsere Gefängnisse: Sie sind überfüllt, gelten als Einbahnstraße und Brutstätten der Radikalisierung – liegt das am System?

Ja. Es liegt aber auch an einer Trendwende: Die Strafrechtspolitik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter vom Gedanken der Resozialisierung entfernt und den Schutz vor Straftaten in den Vordergrund gestellt. Strafe setzt heute also weniger auf Reintegration in die Gesellschaft und die Haftbedingungen sind restriktiver. Neun von zehn Inhaftierten kommen aus dem unteren sozialen Milieu und auch Migranten sind mit 26 Prozent stark überrepräsentiert. Studien haben ergeben, dass Menschen mit geringem Selbstwertgefühl weitaus empfänglicher sind für Radikalisierung. Indem sie sich extremen Ideologien zuwenden, versuchen sie, das Stigma der Haft zu überwinden und sich eine neue positive soziale Identität zu schaffen.

Worauf führen Sie die Entwicklung in der Strafjustiz zurück?

Das hat mit der verbreiteten neoliberalen Philosophie zu tun: Wir glauben, dass einzelne Menschen aus eigenem Willen und rationaler Überzeugung heraus Taten begehen. Der Neoliberalismus schreibt dem Individuum mehr Verantwortung zu und entlastet so auch das Gemeinwesen. Man versucht nicht länger, mit Sozialpolitik der Entstehung von Milieus entgegenzuwirken, in denen Menschen sich kriminalisieren. Stattdessen soll der Einzelne für seine Taten einstehen und auch rechenschaftspflichtig gemacht werden. Zudem steht die Unterschicht viel stärker im Fokus der Strafverfolgung.

Warum ist das so?

Weil Kriminalität insgesamt relativ gleich über die Gesellschaft verteilt ist, typische Delikte der Unterschicht sich aber leichter aufklären lassen und statistisch wesentlich häufiger verfolgt werden. Diese Richtung, einerseits den Wohlfahrtsstaat zurückzufahren und andererseits die Strafpolitik zu verschärfen, kann man ganz eindeutig in den USA und Großbritannien erkennen – und in einzelnen Tendenzen seit Ende der 90er Jahre, seit der Schröder-Regierung also, auch in Deutschland. Weiter lesen…